Der Mensch als Betriebsfaktor – Warum unsere Löhne nicht zum Leben reichen

Stellen wir uns vor, ein Betriebswirt betrachtet nicht eine Maschine, sondern einen Menschen als Produktionsfaktor. Was würde er feststellen? Er würde kalkulieren, wie viel dieser Mensch kostet, um leistungsfähig zu bleiben. Er würde untersuchen, wie viel investiert werden muss, damit neue Menschen heranwachsen und in Zukunft die Arbeit übernehmen können. Und er würde sich fragen: Wie viel Gewinn bleibt am Ende übrig? Das Ergebnis dieser wirtschaftlichen Betrachtung ist ernüchternd: Der Mensch in Deutschland erwirtschaftet für sich selbst kaum einen Überschuss. Unser Lohnsystem basiert auf Selbstausbeutung, unterstützt von gesellschaftlichen Zuschüssen und unbezahlter Care-Arbeit.

Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in Deutschland verdient brutto etwa 45.000 € im Jahr. Netto bleiben ihm, wenn er alleinstehend ist, rund 30.000 €. Von diesem Geld muss er seine gesamte Lebensführung bestreiten: Wohnen, Essen, Kleidung, Gesundheit, Mobilität, Erholung. Diese Grundkosten summieren sich realistisch auf etwa 25.000 € pro Jahr. Der Überschuss: magere 5.000 € – wenn überhaupt.

Doch diese Rechnung ist nur die halbe Wahrheit. Wenn wir den Menschen als betriebswirtschaftliche Einheit betrachten, müssen wir auch die Reproduktion seiner Arbeitskraft einrechnen: Kinder. Zwei Kinder pro Arbeitnehmer sind notwendig, um den Erhalt der Gesellschaft sicherzustellen. Die Aufzucht eines Kindes bis zur Volljährigkeit kostet rund 150.000 bis 170.000 €. Bei zwei Kindern beläuft sich das auf etwa 324.000 €. Diese Kosten entstehen nicht über das gesamte Leben, sondern konzentrieren sich auf etwa 25 Jahre aktiver Erziehungszeit. Das bedeutet jährliche Zusatzkosten von rund 13.000 €.

Ein Mensch, der Kinder großzieht, muss also jährlich etwa 38.000 € aufbringen, um sich selbst und seinen Nachwuchs zu versorgen. Bei einem Nettoeinkommen von 30.000 € ergibt sich eine jährliche Deckungslücke von rund 8.000 €. In den Jahren ohne Kinderlasten kann er zwar etwas ansparen, doch über das gesamte Erwerbsleben hinweg ergibt sich ein Defizit von über 120.000 €. Diese Summe wird im echten Leben durch gesellschaftliche Transfers (z. B. Kindergeld), unbezahlte Arbeit (v. a. durch Frauen) oder durch Verzicht kompensiert. Aber nicht durch den Lohn.

Gleichzeitig erzeugt der Arbeitnehmer wirtschaftlichen Mehrwert: Seine Arbeit bringt dem Unternehmen jährlich rund 80.000 bis 100.000 € an Leistung. Nach Abzug aller Kosten verbleiben dem Betrieb im Schnitt 10.000 bis 20.000 € Gewinn pro Kopf. Dieser Gewinn wird privatisiert – während der Arbeitnehmer selbst bestenfalls auf null hinauskommt.

Diese wirtschaftliche Betrachtung legt den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft: Der Lohn, der heute gezahlt wird, reicht nicht aus, um den Menschen als Mensch zu finanzieren. Er deckt gerade einmal seine kurzfristige Funktion als Arbeitskraft. Nicht aber seine langfristige Reproduktion. Nicht seine Lebensqualität. Nicht seine Entwicklungsmöglichkeiten. Und schon gar nicht die seiner Kinder.

Wer also über Fachkräftemangel, Geburtenrückgang oder Altersarmut spricht, muss hier ansetzen: Die Löhne sind zu niedrig. Und sie sind es systematisch. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das den Menschen nicht nur als Ressource betrachtet, sondern als Wesen mit Bedürfnissen, mit Familie, mit Zukunft. Und wir brauchen Löhne, die diesem Menschenbild gerecht werden. Alles andere ist Raubbau – nicht an Maschinen, sondern an Menschen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 07.05.2025. Das Artikelbild wurde von ChatGPT erstellt.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de