Jedes Land hat das Recht sich zu verteidigen

Wer angegriffen wird, hat das Recht sich zu verteidigen, das gilt für Menschen, da nennen wir es Notwehr, und es gilt für Länder – ist doch ganz einfach, oder?

Nein, ist es nicht. Denn anders als Menschen können Länder sich nicht verteidigen. Sie brauchen dafür Menschen. Und diese Menschen sind beileibe nicht immer freiwillig bereit, ihr Leben zur Verteidigung ihres Landes zu opfern bzw. zu riskieren. Im aktuellen Ukrainekrieg ist dieser Zwiespalt deutlich erkennbar, denn warum sonst sollte die ukrainische Regierung den wehrfähigen Männern die Ausreise verbieten? Die Frage lautet also gar nicht, ob ein Land das Recht hat, sich zu verteidigen, sondern ob ein Land seine Bürgerinnen und Bürger dazu zwingen darf, in einen Krieg zu ziehen.

Es gibt in der Aussage „Jedes Land hat das Recht sich zu verteidigen“ aber noch weitere Fallstricke. Denn es würde gar keinen Sinn machen, ein Land zu verteidigen. Das Land wäre auch nach einem Angriff noch da. Verteidigt wird in aller Regel die Herrschaft über ein Land, sprich:

Es wird nie das Land verteidigt, sondern immer nur die Regierung.

Vielen Menschen ist es möglicherweise gar nicht wichtig, wessen Fahne über ihrer Hauptstadt weht, sie wollen nur ihr Leben in Ruhe und Frieden leben. Dafür, dass dies auch auf viele Ukrainerinnen und Ukrainer zutrifft, spricht, dass mehr Menschen aus der Ukraine nach Russland geflüchtet sind als in irgendein anderes Land auf der Welt. Tatsächlich sind nach Zahlen des UNHCR rund 2,8 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Russland geflohen, in alle anderen Länder zusammen rund 2,6 Millionen (Quelle: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine).

Darüber hinaus gibt es auch noch eine andere offene Frage: nämlich die Wahl der Verteidigungsmittel. Wäre es für Afghaninnen während des Krieges dort zulässig gewesen, Terroranschläge in den kriegsführenden Ländern durchzuführen? Natürlich nicht, denn diese treffen ja bevorzugt Zivilisten. Würden solche Terroranschläge gezielt gegen die Armeen der kriegsführenden Staaten gerichtet, wäre die Frage schwieriger zu beantworten. Klar ist aber, dass sich die Verteidigung nur gegen die angreifenden Truppen richten darf, nicht gegen die Zivilisten des Gegners. Wer darüber hinaus geht, verliert das Recht von Verteidigung zu sprechen.

Im Übrigen gilt es auch misstrauisch zu sein. In fast jedem Krieg erzählen die Herrschenden auf allen Seiten ihren Völkern, sie seien angegriffen worden. Den einfachen Menschen ist es in aller Regel kaum möglich selbst festzustellen, ob dies der Wahrheit entspricht. Meist waren es „unsere“ (Deutschland oder dem Westen zugerechnetete) Länder, die gelogen haben. Ein paar Beispiele:

Golf von Tonkin-Zwischenfall (Vietnamkrieg)
Offizielle Begründung: Angriff nordvietnamesischer Torpedoboote auf US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin
Tatsächliche Situation: Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Informationen ungenau oder falsch waren. Der Kongress der USA gab daraufhin dennoch die Tonkin-Resolution heraus, die den Kriegseintritt legitimierte.

Massenvernichtungswaffen im Irak (Irakkrieg 2003)
Offizielle Begründung: Irak besitzt Massenvernichtungswaffen und stellt eine unmittelbare Bedrohung dar.
Tatsächliche Situation: Keine Massenvernichtungswaffen wurden gefunden. Die Kriegsgründe sind bis heute umstritten.

Spanisch-Amerikanischer Krieg (1898)
Offizielle Begründung: Die USS Maine wurde durch eine spanische Mine versenkt.
Tatsächliche Situation: Spätere Untersuchungen konnten nicht eindeutig klären, was das Schiff versenkt hat, aber es gab starke Zweifel, dass Spanien dafür verantwortlich war.

Zweiter Golfkrieg (1980–1988, Irak gegen Iran)
Offizielle Begründung: Territoriale Integrität und iranische Aggression
Tatsächliche Situation: Es wird oft argumentiert, dass der Irak eigene geopolitische und ökonomische Interessen verfolgte und den Krieg als Möglichkeit sah, Gebiete und Ressourcen des Iran zu kontrollieren.

Invasion in Panama (1989)
Offizielle Begründung: Schutz amerikanischer Bürger und Wiederherstellung demokratischer Prozesse
Tatsächliche Situation: Kritiker behaupten, dass die USA primär wirtschaftliche und strategische Interessen im Kanalgebiet verfolgten.

Überfall auf den Sender Gleiwitz (II. Weltkrieg)
Offizielle Begründung: Polen habe auf deutsches Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Tarsächliche Situation: Hitler einen Angriff polnischer Soldaten auf den oberschlesischen Sender Gleiwitz vortäuschen. Deutsche Staatsbürger in polnischen Uniformen griffen die Radiostation an, um den NS-Propagandisten Stoff für ihre Ablenkungspropaganda zu liefern.

Dies sind nur einige Beispiele, und die Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden. Dennoch fallen die Menschen immer wieder auf die Argumentation vom Verteidigungskrieg herein.

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Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de