Wie Armut vererbt wird

Stell dir vor, du bist in den späten sechziger oder frühen siebziger Jahren geboren. Deine Eltern hatten wenig Geld, und du wuchsest in einer Großfamilie mit fünf, sechs oder sogar mehr Geschwistern auf. Es war eine andere Zeit, mit einer anderen Einstellung zu Kindern. Verantwortung und Bürden wurden oft früh auf die Schultern der jungen Generation gelegt – manchmal ohne zu fragen, ob sie diese tragen können.

Manche Eltern nutzten ihre volljährig gewordenen Kinder, um Schulden zu machen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Versandhausbestellungen auf den Namen der Kinder liefen oder dass sie gedrängt wurden, sich selbstständig zu machen, um die Familie finanziell zu entlasten. Doch was damals vielleicht als schnelle Lösung erschien, hinterließ oft tiefe Spuren: Schulden, die die Betroffenen jahrzehntelang begleiteten, finanzielle Schwierigkeiten, die nie ganz überwunden wurden, und eine Last, die bis heute spürbar ist.

Die Situation wurde noch dadurch verschärft, dass die modernen Insolvenzregelungen, die nach einigen Jahren Schuldenfreiheit ermöglichen, erst seit Ende der neunziger Jahre existieren. Zuvor mussten viele mit ihren Schulden leben, ohne eine realistische Chance auf Befreiung. Und obwohl Schuldtitel ’nur‘ dreißig Jahre gültig waren, bedeutete das für viele ein Leben voller Entbehrungen. Aus alten Schulden entstanden immer wieder neue – nicht selten durch Zinsen, Mahngebühren oder die schiere Tatsache, dass der Lebensunterhalt trotz Lohn- oder Kontopfändungen irgendwie bestritten werden musste.

Über Jahre hinweg wurden Betroffene von Lohnpfändungen und Kontopfändungen immer wieder in neue finanzielle und persönliche Krisen gestürzt. Selbst wenn sie sich mühsam etwas aufgebaut hatten, reichte ein Brief vom Gerichtsvollzieher, um sie wieder ins Chaos zu treiben. Diese ständige Unsicherheit prägte nicht nur ihre wirtschaftliche Situation, sondern oft auch ihre seelische Verfassung.

Heute, Jahrzehnte später, hat sich das Leben vieler dieser Menschen nicht wesentlich verbessert. Einige resignierten und gaben auf, andere kämpften sich durch, zahlten ab, suchten Vergleiche mit den Gläubigern oder fanden über die Insolvenzregelung endlich einen Ausweg. Doch auch das bedeutete oft kein wirklich neues Kapitel, denn mit zunehmendem Alter kamen neue Herausforderungen.

In Großfamilien mit fünf, sechs oder mehr Geschwistern werden heute oft die Überlebenden zur Kasse gebeten, um Beerdigungskosten für verstorbene Eltern, Geschwister oder andere Verwante zu tragen – auch dann, wenn sie seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatten. Wer das Erbe nicht rechtzeitig ausschlägt, kann sogar die Schulden der Verstorbenen erben. Diese gesetzliche Regelung gleicht einer modernen Form von Sippenhaft und führt zu einer endlosen Spirale von finanziellen Belastungen.

Besonders in ärmeren Haushalten, wo die Lebenserwartung um etwa zehn Jahre niedriger liegt als in wohlhabenden Familien, erreicht immer mehr Betroffene dieses Alter – und die Rechnungen häufen sich. Manche Familien erhalten fast jährlich eine neue Beerdigungsrechnung. Das alles sind keine Einzelfälle, sondern die Realität vieler Menschen, die aus einer Generation stammen, in der Armut, Kinderreichtum und wirtschaftliche Ausbeutung Hand in Hand gingen.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de