Die USA, aber auch andere Länder, haben in den letzten Jahrzehnten durch illegale Kriege, verdeckte Operationen, gesteuerte Umstürze und direkte Sabotage in zahlreichen Ländern immense Schäden verursacht, man denke an die Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Irak oder die Folgen der Intervention in Libyen. Neben dem unermesslichen menschlichen Leid entstanden dabei auch materielle Verluste – oft berechenbar, aber kaum je kompensiert. Betroffene Staaten verfügen zwar über moralische und völkerrechtliche Ansprüche, doch die Aussicht auf tatsächliche Entschädigung bleibt minimal.
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Ein möglicher Ausweg: ein spezieller Finanzfonds, der auf Gerechtigkeit zielt – und zugleich Rendite verspricht.
Der Fonds würde Kapital einsammeln, um gezielt Forderungen gegen die USA und andere Ländern aus Kriegs- und Interventionsschäden aufzukaufen. Diese Forderungen – oft von betroffenen Staaten nie formell erhoben – könnten voraussichtlich zu einem Bruchteil ihres Werts erworben werden. Anschließend würde der Fonds versuchen, sie juristisch oder politisch durchzusetzen, etwa durch die Beschlagnahmung von Vermögenswerten (Schiffe, Flugzeuge, Güter) der Täterstaaten in kooperationsbereiten Ländern.
Die Idee eines solchen Fonds wird realistischer – und relevanter – denn je:
Die weltweite Machtverschiebung geht zulasten der USA. Länder wie China, Russland oder der Iran könnten künftig offener auf Reparationen pochen. Zugleich eskalieren geopolitische Konflikte, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass entsprechende Forderungen z. B. im Transit oder Hafen durchgesetzt werden. Die Existenz eines solchen Fonds allein wäre bereits ein politisches Statement: Die USA könnten nicht länger darauf vertrauen, dass ihre Vergehen, alleine wegen ihrer bislang unangefochtenen Vormachtstellung, folgenlos bleiben.
Hinzu kommt: Der Westen selbst liefert mit der Einfrierung russischer Vermögen im Ukrainekrieg den Präzedenzfall – und damit die juristische Argumentationshilfe. Ein vielleicht noch gravierenderer Fall war die Beschlagnahme des Vermögens der afghanischen Zentralbank in den USA im Jahr 2022. Die Hälfte der Summe sollte den Opfern des 11.09.2001 zugute kommen. Die westlichen Länder haben damit das Prinzip der staatlichen Immunität selbst aufgeweicht und sich für ähnliche Maßnahmen angreifbar gemacht.
Die Erosion der Staatenimmunität seit 1989
Das Prinzip der Staatenimmunität ist ein fundamentaler Grundsatz des Völkerrechts, der auf dem lateinischen Satz par in parem non habet imperium beruht – „Gleiche haben keine Gewalt übereinander“. Es leitet sich direkt aus der souveränen Gleichheit der Staaten ab und besagt, dass die Gerichte eines Staates nicht über die Handlungen eines anderen Staates urteilen oder Zwangsmaßnahmen gegen dessen Vermögen ergreifen dürfen. Ziel ist der Schutz der staatlichen Souveränität und die Gewährleistung, dass Staaten ihre öffentlichen Funktionen ohne Einmischung ausüben können.
Historisch wurde die Immunität absolut ausgelegt, doch im 20. Jahrhundert entwickelte sich die heute vorherrschende Theorie der relativen Immunität. Diese unterscheidet zwischen zwei Arten staatlichen Handelns:
- Hoheitliche Akte (acta iure imperii): Handlungen, die in Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt erfolgen, wie militärische Operationen, diplomatische Tätigkeiten oder Gesetzgebungsakte. Für diese Akte genießen Staaten in der Theorie weiterhin umfassenden Schutz.
- Kommerzielle oder privatwirtschaftliche Akte (acta iure gestionis): Handlungen privatrechtlicher Natur, die auch eine Privatperson vornehmen könnte, wie der Abschluss von Kaufverträgen oder die Aufnahme von Krediten. Für solche Akte wird in der Regel keine Immunität gewährt.
Die Praxis seit 1989 zeigt jedoch, dass diese Unterscheidung zunehmend aufgeweicht und die Immunität selbst für hoheitliche Akte durch verschiedene rechtliche und politische Manöver umgangen wird. Die vorliegenden Berichte belegen eine systematische Erosion dieses Prinzips, insbesondere durch westliche Staaten, die es als Instrument in geopolitischen Auseinandersetzungen nutzen.
Die Einfallstore: Wie Staatenimmunität umgangen wird
Die analysierten Fälle zeigen verschiedene wiederkehrende Muster und rechtliche Konstruktionen, die als „Einfallstore“ dienen, um die Staatenimmunität zu durchbrechen:
- Politische Nichtanerkennung von Regierungen: Anstatt die Immunität des Staates selbst anzugreifen, wird einer unliebsamen Regierung die Legitimität entzogen und einer alternativen, oft nicht de facto regierenden, Opposition die Kontrolle über das Staatsvermögen zugesprochen. Die Fälle des venezolanischen CITGO-Konzerns in den USA und der Goldreserven in Großbritannien sind hierfür Paradebeispiele. Britische Gerichte argumentierten mit der „One Voice Doctrine“, wonach die Justiz der außenpolitischen Linie der Regierung folgen muss.
- Unilaterale Sanktionen und Terrorismusvorwürfe: Insbesondere die USA nutzen ihre nationalen Sanktionsgesetze und die Einstufung von Staaten als „Unterstützer des Terrorismus“ als rechtliche Grundlage, um weltweit auf deren Vermögen zuzugreifen. Dies geschieht oft extraterritorial, also außerhalb des eigenen Staatsgebiets, und ohne UN-Mandat. Die Beschlagnahmung iranischer Öltanker wird oft als „Piraterie“ bezeichnet ,von den USA jedoch mit Verstößen gegen US-Sanktionen gerechtfertigt.
- Die „Alter Ego“-Doktrin: Gerichte, vor allem in den USA, durchbrechen die rechtliche Trennung zwischen einem Staat und seinen Staatsunternehmen, indem sie das Unternehmen als bloßes „alter ego“ (zweites Ich) des Staates deklarieren. Dies ermöglicht es Gläubigern, auf das Vermögen des Unternehmens zuzugreifen, um Forderungen gegen den Staat zu befriedigen, wie im Fall von Venezuelas Ölgesellschaft PDVSA und deren US-Tochter CITGO.
- Ausweitung kommerzieller Ausnahmen und Vertragsrecht: Im Fall Argentiniens nutzten Hedgefonds die pari passu-Klausel in Staatsanleihen, die traditionell nur eine Gleichrangigkeit der Schulden garantierte. Ein New Yorker Gericht interpretierte diese Klausel jedoch radikal neu als ein Gebot zur Gleichbehandlung bei der tatsächlichen Zahlung und zwang Argentinien so, die Fonds vollständig auszuzahlen, um einen technischen Staatsbankrott zu vermeiden.
- Qualifizierung als Tatmittel einer Straftat: Anstatt die Immunität direkt anzugreifen, wird staatliches Eigentum als Instrument zur Begehung einer illegalen Handlung (z.B. Sanktionsverstoß) qualifiziert. So beschlagnahmte Deutschland den russischen Tanker „Eventin“ und seine Ladung mit der Begründung, das Schiff sei ein Tatmittel für einen Verstoß gegen EU-Sanktionen und deutsches Recht. Das Eigentum wurde nicht wegen einer Forderung gegen Russland, sondern wegen der illegalen Nutzung eingezogen.
- Einfrieren und Nutzung von Zinserträgen als „Gegenmaßnahme“: Die jüngste Entwicklung betrifft die eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank. Anstatt sie direkt zu konfiszieren, was als klarer Bruch der Staatenimmunität gelten würde, haben die G7-Staaten beschlossen, die Zinserträge dieser Vermögen zu nutzen, um einen Kredit für die Ukraine zu finanzieren. Dies wird völkerrechtlich als „Gegenmaßnahme“ auf Russlands Aggression gerechtfertigt – ein juristisches Novum, das die Grenzen zwischen temporärem Einfrieren und permanenter Enteignung verwischt.
Tabellarische Übersicht der Fälle (seit 1989)
Die folgende Tabelle fasst die in den bereitgestellten Berichten genannten Fälle zusammen und verdeutlicht die systematische Anwendung der oben genannten Mechanismen.
Betroffener Staat | Ort / Handelnder Staat | Vermögensart | Zeitraum | Maßnahme | Angeführte Rechtfertigung | Völkerrechtliche Problematik |
Venezuela | USA | Anteile an CITGO Petroleum Corp. | ab 2019 | Einfrieren & Übertragung der Kontrolle an Guaidó-Administration; gerichtl. genehmigter Verkauf zur Befriedigung von Gläubigern | Politische Anerkennung Guaidós; US-Sanktionen; „Alter Ego“-Doktrin (PDVSA = Staat) | Einseitige Sanktionen; Umgehung der Immunität durch politische Anerkennung einer nicht-regierenden Opposition |
Venezuela | Großbritannien | 31 Tonnen Goldreserven | ab 2019 | Verweigerung der Herausgabe an Maduro-Regierung; Zuspruch an Guaidó-Administration | Politische Anerkennung Guaidós durch die britische Regierung („One Voice Doctrine“) | Missachtung der effektiven Kontrolle durch die Maduro-Regierung; Verletzung der Immunität von Zentralbankvermögen |
Argentinien | USA (New Yorker Gericht), Ghana | Staatsanleihen; Marineschulschiff ARA Libertad | 2012–2016 | Einstweilige Verfügung gegen Zahlungsabwicklung; vorübergehende Beschlagnahme des Kriegsschiffes in Ghana | Klagen von Hedgefonds nach Staatsbankrott; Neuinterpretation der pari passu-Klausel | Beschlagnahme des Kriegsschiffes war klarer Bruch der absoluten Immunität; umstrittene Gerichtsentscheidung, die private Gläubiger über staatliche Souveränität stellte |
Afghanistan | USA | Vermögen der afghanischen Zentralbank | 2022 | Zunächst eingefroren, 2022 dann Beschlagnahme. | Um die Gelder vor dem Zugriff der nicht anerkannten und als Terrororganisation eingestuften Taliban zu schützen und für das afghanische Volk zu sichern | Erlass der Executive Order 14064 durch die Biden-Regierung, fortlaufende juristische Auseinandersetzung. |
Iran | USA, Gibraltar | Öltanker und deren Ladung (z.B. Grace 1, Suez Rajan) | ab 2019 | Physische Beschlagnahmung von Tankern und Konfiskation des Öls auf hoher See | Verstöße gegen einseitige US-/EU-Sanktionen; Terrorismusvorwürfe | Einseitige, extraterritoriale Sanktionen ohne UN-Mandat; Verletzung der Freiheit der Schifffahrt; von Iran als „Piraterie“ bezeichnet |
Russland | EU, G7-Staaten | Vermögen der Zentralbank (ca. 300 Mrd. USD) | ab 2022 | Einfrieren der Vermögen; Nutzung der Zinserträge (ca. 3 Mrd. EUR p.a.) für die Ukraine | Völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine; Rechtfertigung als „Gegenmaßnahme“ | Völkerrechtlich hoch umstrittenes Novum; untergräbt Vertrauen in Finanzmärkte; Immunität von Zentralbankvermögen gilt als besonders hoch |
Russland | Deutschland (Ostsee) | Öltanker „Eventin“ und Ladung | 2025 | Beschlagnahme und Einziehung in deutsches Staatseigentum | Verstoß gegen EU-Sanktionen; Qualifizierung als „Tatmittel“ einer Straftat nach deutschem Recht | Umgehung der Immunitätsfrage durch strafrechtliche Einordnung; von Russland als „illegale Konfiszierung“ bezeichnet |
Irak | Weltweit (UN-mandatiert) | Bankkonten, Erlöse aus Ölverkäufen | ab 1990 | Einfrieren und Nutzung für Reparationszahlungen an Kuwait und Wiederaufbau | UN-Sanktionen nach Invasion Kuwaits | Durch UN-Mandat grundsätzlich gedeckt, aber langfristige Nutzung der Vermögen ohne Zustimmung des Iraks war umstritten |
Libyen | USA, EU | Staatsvermögen (ca. 150 Mrd. USD) | ab 2011 | Einfrieren und teilweise Übertragung an eine Übergangsregierung | UN-Sanktionen während des Bürgerkriegs | UN-Mandat legitimierte das Einfrieren, aber die Nutzung und Übertragung für politische Zwecke war völkerrechtlich umstritten |
Syrien | EU | Vermögen der Zentralbank und staatlicher Unternehmen | ab 2011 | Einfrieren von Vermögenswerten | Einseitige EU-Sanktionen aufgrund des Bürgerkriegs und Menschenrechtsverletzungen | Einseitige Sanktionen ohne UN-Mandat, daher völkerrechtlich fragwürdige Legitimität |
Russland | Estland | Eingefrorenes russisches Vermögen (38 Mio. EUR) | 2024 | Gesetz zur direkten Nutzung für Reparationen an die Ukraine | Estnischer Alleingang zur Unterstützung der Ukraine | Schafft Präzedenzfall innerhalb der EU für die direkte Konfiskation und Umgehung der Immunität |
Schlussfolgerung
Die Analyse der dokumentierten Fälle belegt eindeutig, dass die Staatenimmunität seit 1989 einer signifikanten Erosion unterliegt. Das einstmals klare völkerrechtliche Prinzip ist zu einem flexiblen Instrument verkommen, dessen Einhaltung zunehmend von geopolitischem Kalkül und machtpolitischen Interessen abhängt.
Insbesondere westliche Staaten haben durch die kreative Auslegung nationaler Gesetze, die Anwendung unilateraler Sanktionen und die politische Anerkennung von Wunschregierungen vollendete Tatsachen geschaffen. Die Fälle reichen von der Aushöhlung der Immunität für kommerzielle Akte (Argentinien) über die Umgehung durch politische Manöver (Venezuela) bis hin zur direkten Infragestellung durch Sanktionsrecht (Iran, Russland).
Das Ergebnis ist ein sich änderndes rechtliches Umfeld, indem die Staatenimmunität zunehmend in Frage gestellt wird und in dem eine Haftbarmachung von Staaten für begangene Völkerrechtsverstöße zunehmend möglich erscheint.
Darüber hinaus eröffnet sich eine weitere, subtilere, aber nicht weniger wirksame Methode: die Verrechnung von Schulden. Wenn sich der direkte Einzug einer Forderung durch Beschlagnahmung als schwierig erweist, könnte die gerichtlich festgestellte Forderung als handelbares Gut genutzt werden. Ein Staat, der eine rechtskräftige Forderung gegen die USA besitzt, könnte diese Forderung mit einem Abschlag an einen anderen Staat verkaufen, der seinerseits bei den USA (oder US-amerikanischen Banken) verschuldet ist. Der Käuferstaat könnte die Forderung dann zum vollen Nominalwert nutzen, um seine eigenen Schulden zu tilgen. So entsteht ein Markt, auf dem die Schulden der einen zu den Vermögenswerten der anderen werden.
Auch das Investitionsumfeld verändert sich: Noch nie gab es so viele vermögende Menschen, insbesondere im globalen Süden, die das kriminelle Entfachen von Kriegen verurteilen – und bereit wären, Geld zur Eindämmung einzusetzen, zumal bei Aussicht auf Gewinn. Schon die Existenz eines solchen Fonds, insbesondere bei positiver Entwicklung, könnte kriegsführende Staaten unter Druck setzen – etwa über steigende Länderrisiken und schlechtere Kreditkonditionen.
Statt am Krieg zu verdienen, wie es Rüstungsaktionäre tun, könnte man am Frieden verdienen. Ein solcher Fonds würde den Preis für Kriege erhöhen – und damit zur Friedenssicherung beitragen.
Klar ist: Ein solches Projekt würde massiven Widerstand hervorrufen. Der Erfolg wäre ein Stück weit spekulativ. In westlichen Staaten wäre der Fonds kaum zu realisieren (außer, wenn er sich gegen Staaten außerhalb des westlichen Staatenbündnisses richtet) – zu stark wären juristische und politische Blockaden. Chancen hätte er eher in Ländern mit weniger pro-westlicher Ausrichtung – etwa in Brasilien, Südafrika oder Indonesien. Aber Probleme wie „Staatenimmunität“ oder die Schwierigkeit, Urteile international zu vollstrecken (insbesondere gegen eine Supermacht) deuten die Komplexität an.
Allerdings sind es ja genau diese großen Aufgaben, die einen solchen Fonds so wichtig, aber auch so aussichtsreich machen. Wäre es ganz einfach, Schadensersatz für Kriegshandlungen zu erhalten, so würden sich Kriege viel weniger lohnen und wären entsprechend seltener.
Der Fonds wäre nicht nur ein finanzielles Instrument, sondern auch ein Machtwerkzeug: Er würde nicht nur die USA mit ihren historischen Schulden konfrontieren und gleichzeitig die wachsende Bereitschaft des „Globalen Südens“ demonstrieren, diese einzufordern. Ob als Investition oder politisches Statement – die Idee könnte die Debatte über globale Gerechtigkeit neu entfachen.
Dabei sind die hier genannten USA selbstverständlich nur beispielhaft gewählt. Sollte ein solcher Fonds Erfolg haben – und sei es nur durch die ernsthafte Debatte, die er anstößt – wäre es nur eine Frage der Zeit, bis dieses Modell auch auf andere historische Verbrechen angewendet wird.
In diesem Zuge ließe sich das Modell weiterentwickeln: Denkbar wäre ein ganzes Ökosystem von Fonds, die jeweils auf eine bestimmte Intervention oder einen Aggressor-Staat spezialisiert sind und ihren Sitz gezielt dort haben, wo die politischen Erfolgsaussichten am größten sind.
Die ökonomische Logik des Gerechtigkeitsfonds – Warum sich Frieden rechnen kann
Der im Artikel skizzierte Fonds für Gerechtigkeit ist mehr als nur ein moralisches oder politisches Instrument. Seine wahre Sprengkraft entwickelt er durch seine ökonomische Logik, die ihn gerade für risikofreudige Investoren zu einem hochinteressanten Anlagevehikel macht. Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen: Gerade die scheinbar geringe Erfolgsaussicht, jemals Forderungen gegen mächtige Staaten durchzusetzen, bildet die Grundlage für eine potenziell astronomische Rendite.
Wirtschaftswissenschaftlicher Exkurs: Die Mechanik des Hochrisiko-Investments
Um das Potenzial des Fonds zu verstehen, hilft ein Blick auf zwei etablierte Bereiche der Finanzwelt: Venture Capital (Wagniskapital) und den Handel mit notleidenden Staatsanleihen (Distressed Debt).
1. Das Venture-Capital-Prinzip: Wetten auf den einen großen Erfolg
Ein Venture-Capital-Fonds investiert in junge, innovative Unternehmen (Start-ups), deren Zukunft höchst ungewiss ist. Der Investor weiß, dass die überwiegende Mehrheit seiner Investments – oft 80 bis 90 Prozent – scheitern wird. Diese Unternehmen gehen insolvent, ihre Ideen setzen sich nicht durch, das investierte Kapital ist verloren.
Der gesamte Erfolg des Portfolios hängt von den verbleibenden 10 bis 20 Prozent ab. Diese wenigen erfolgreichen Start-ups müssen jedoch eine so explosive Wertentwicklung hinlegen, dass sie nicht nur die Verluste aller anderen Investments ausgleichen, sondern den Gesamtfonds in eine hochprofitable Anlage verwandeln. Man spricht hier von einer asymmetrischen Renditeverteilung.
Dieses Prinzip ist direkt auf den Gerechtigkeitsfonds übertragbar:
- Günstiger Erwerb von Ansprüchen: Der Fonds kauft die legitimen, aber als kaum durchsetzbar geltenden Schadensersatzforderungen von Opfern staatlicher Gewalt für einen Bruchteil ihres Nennwertes. Für die Opfer bedeutet dies eine sofortige, wenn auch kleine, Kompensation, wo vorher nur Hoffnungslosigkeit war.
- Astronomisches Potenzial: Die nominalen Summen der Forderungen (zerstörte Infrastruktur, verlorene Rohstoffe, menschliches Leid) sind gigantisch. Schon die erfolgreiche Durchsetzung eines einzigen, mittelgroßen Anspruchs könnte den Wert des gesamten Fonds vervielfachen.
- Portfolio-Diversifikation: Der Fonds bündelt Tausende von Ansprüchen gegen verschiedene Staaten und aus verschiedenen Konflikten. Ein politischer Umsturz in nur einem Land, ein unerwarteter Gerichtserfolg oder ein internationaler Schiedsspruch könnten ausreichen, um den „Homerun“ zu erzielen, der alle Investitionen rechtfertigt.
2. Das Distressed-Debt-Prinzip: Profitieren von der Krise
Investoren in notleidende Staatsanleihen kaufen die Schuldscheine von Ländern, die am Rande des Bankrotts stehen, zu extrem niedrigen Kursen. Sie spekulieren darauf, dass sich die Lage des Landes stabilisiert oder dass sie durch juristische Auseinandersetzungen eine höhere Rückzahlung erzwingen können, als der Markt erwartet. Der Fall der Hedgefonds, die Argentinien nach dessen Staatspleite erfolgreich verklagten, ist ein Paradebeispiel. Der Gerechtigkeitsfonds würde dieses Modell adaptieren, nur dass die Basis keine Finanzschulden, sondern moralisch und völkerrechtlich untermauerte Schadensersatzforderungen wären.
Das moralische Fundament: Die faire Beteiligung der Opfer
Ein entscheidender Einwand gegen dieses rein ökonomische Modell liegt auf der Hand: Wenn die Forderungen zu niedrig erworben werden, erhalten die tatsächlichen Opfer oder deren Nachfahren ja fast nichts. Der Fonds würde sich sofort dem Vorwurf aussetzen, ein reines Spekulationsvehikel nach Art eines „Geierfonds“ zu sein, das mit fremdem Leid skrupellos Profite macht.
Um diese moralische und strategische Schwäche zu überwinden, muss das Erwerbsmodell zwingend hybrid gestaltet sein. Anstatt die Forderung vollständig abzukaufen, leistet der Fonds eine moderate Sofortzahlung zur Linderung der dringendsten Not und zur Honorierung des Vertrauens. Im Gegenzug behalten die Opfer (oder deren legitimierte Vertreter) eine signifikante prozentuale Beteiligung am zukünftigen Erfolg ihrer spezifischen Forderung.
Dieses Modell hat zwei entscheidende Vorteile:
- Moralische Legitimität: Es stellt sicher, dass die Opfer die Hauptnutznießer bleiben. Der Fonds agiert weniger als Käufer, sondern vielmehr als Partner und Prozessfinanzierer, der sein Kapital und seine Expertise zur Verfügung stellt, um Gerechtigkeit zu erstreiten. Die Opfer werden nicht aus ihrer eigenen Geschichte herausgekauft, sondern bleiben deren zentrale Akteure und Hauptbegünstigte.
- Strategische Resilienz: Dieser Ansatz entkräftet von vornherein das Argument der Gegner, es handle sich um unmoralisches Geschäftemachen. Gegenüber Gerichten, der Politik und der Weltöffentlichkeit kann der Fonds glaubhaft argumentieren, im direkten Interesse der Geschädigten zu handeln. Jeder Erfolg des Fonds ist so direkt und sichtbar auch ein finanzieller Erfolg für die Opfer selbst, was die Unterstützung für das Anliegen massiv erhöht und es für beklagte Staaten und Unternehmen weitaus schwieriger macht, die Initiative zu diskreditieren.
Der Marktwert des Fonds als politischer Seismograph
Einmal etabliert und an einem liquiden Markt handelbar, würde der Wert des Fonds zu einem einzigartigen politischen und ökonomischen Indikator werden. Die Wertschwankungen wären ein direktes Abbild der Einschätzung globaler Investoren bezüglich der politischen Zukunft von Aggressorstaaten.
- Ein Frühwarnsystem für politische Instabilität: Ein plötzlicher Anstieg des Fondswertes könnte signalisieren, dass die Märkte einen Regimewechsel, eine zunehmende internationale Isolation oder einen militärischen Misserfolg des betreffenden Staates für wahrscheinlicher halten. Er würde damit zu einem Echtzeit-Barometer für geopolitische Risiken.
- Konkreter politischer Druck: Diese Wertentwicklung wäre mehr als nur eine Zahl auf einem Bildschirm. Sie würde direkt die Kreditwürdigkeit des betroffenen Landes beeinflussen. Ratingagenturen und Banken müssten das im Fonds gebündelte Risiko („Contingent Liabilities“ – bedingte Verbindlichkeiten) in ihre Bewertung der Länderrisiken einfließen lassen. Kredite für dieses Land würden teurer, die Finanzierung von Kriegen und Unterdrückungsapparaten schwieriger. Allein diese Drohkulisse übt bereits politischen Druck aus.
Historische Vorbilder: Wenn David Goliath zur Kasse bittet
Die Annahme, dass organisierte Opfer erfolgreich Schadensersatz von Staaten oder mächtigen Konzernen erstreiten können, ist keine Theorie. Die Geschichte ist voll von Beispielen, die die Machbarkeit belegen und oft auf einem ähnlichen Prinzip beruhen: der Bündelung von Ansprüchen und der Finanzierung durch Dritte.
- Die Opfer des Nationalsozialismus: Die Jewish Claims Conference agiert seit 1952 im Grunde wie ein solcher Fonds. Sie hat im Namen der Opfer des Holocaust Verhandlungen mit Deutschland geführt und Entschädigungszahlungen von weit über 80 Milliarden US-Dollar erreicht. Sie bündelte die Ansprüche und trat als zentraler Verhandlungspartner auf.
- Ölpest im Nigerdelta: Über Jahrzehnte verseuchte der Ölkonzern Shell systematisch das Nigerdelta. Nach jahrelangen, zähen Rechtsstreitigkeiten, die von Menschenrechtsorganisationen und spezialisierten Anwälten geführt wurden, zwangen europäische Gerichte Shell zu signifikanten Entschädigungszahlungen an die betroffenen Dorfgemeinschaften und zur Beseitigung der Umweltschäden.
- Die Rechte der Ureinwohner: In Australien kippte das historische „Mabo“-Urteil von 1992 das koloniale Dogma der „Terra Nullius“ und eröffnete den Weg für weitreichende Landansprüche und Entschädigungen. In Neuseeland arbeitet das Waitangi-Tribunal seit 1975 historische Vertragsbrüche auf und spricht den Māori-Stämmen erhebliche Entschädigungen (Land und Geld) zu. In Kanada wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Abkommen geschlossen, die indigenen Völkern Milliarden an Entschädigungen und Landrechte zusprachen, zuletzt etwa für das Leid in den „Residential Schools“.
Prozessfinanzierung: Das gleiche Konzept in der Praxis
Ein entscheidender Faktor bei vielen dieser Erfolge ist die Prozessfinanzierung. Spezialisierte Unternehmen oder Anwaltskanzleien übernehmen die gesamten Kosten eines aussichtsreichen, aber teuren und langwierigen Rechtsstreits. Im Gegenzug erhalten sie im Erfolgsfall einen prozentualen Anteil der erstrittenen Summe – ein sogenanntes Erfolgshonorar.
Dieses Geschäftsmodell ist heute ein etablierter Teil des Rechtssystems. Es ermöglicht Klägern ohne finanzielle Mittel, ihr Recht gegen übermächtig erscheinende Gegner durchzusetzen. Der Gerechtigkeitsfonds ist die logische und globale Skalierung dieses Prinzips. Er wäre nicht nur ein einzelner Prozessfinanzierer, sondern ein ganzes Ökosystem, das die Gier des Kapitalismus, die sonst Kriege befeuert, gezielt umkehrt, um den Frieden zu einer profitablen Investition zu machen.
Das besondere an diesem Ansatz ist, dass er die im Kapitalismus verankerte Gier für etwas positives nutzt. Schon immer war es leicht am Krieg und damit am Leid anderer zu verdienen. Das hat Kriege um ein vielfaches wahrscheinlicher gemacht. Würde der Aufbau eines Friedensfonds gelingen, so wäre damit ein finanzielles Gegengewicht geschaffen, am Krieg zu verdienen, wäre ein viel größeres Risiko, als es derzeit noch ist.
Wenn manche Länder, allen voran die USA und Großbritannien, ihre Gerichte über andere souveräne Staaten urteilen lassen, schaffen sie einen Präzedenzfall mit weitreichenden, oft unbeabsichtigten Folgen. Sie implizieren damit, dass das Prinzip der souveränen Gleichheit (par in parem non habet imperium – Gleiche haben keine Gewalt übereinander) für sie nicht mehr uneingeschränkt gilt. Indem sie sich das Recht nehmen, über andere zu richten, gestehen sie diesen spiegelbildlich dasselbe Recht zu. Wenn also in den USA nicht höchstrichterlich verworfene Urteile bestehen, wonach Argentinien zur Zahlung verpflichtet ist, dann impliziert dies, dass auch argentinische Gerichte – sofern ihre Urteile juristisch korrekt zustande kommen – spiegelbildliche Urteile gegen die USA fällen und vollstrecken dürfen. Die Fokussierung auf die USA im Artikel ist also weniger eine willkürliche Wahl als vielmehr eine logische Konsequenz: Die USA haben sich selbst zum Richter über die Welt gemacht und dabei übersehen, dass sie damit die Welt auch zum Richter über sich selbst gemacht haben.
Entgegen der Befürchtung, ein solches Vorgehen würde das Völkerrecht weiter aushöhlen, stabilisiert es dieses in Wahrheit durch die Schaffung von Konsequenzen. Der hier beschriebene Mechanismus ist kein Freibrief für willkürliche Angriffe auf die Souveränität beliebiger Staaten. Er kann aber gegen jene Länder angewendet werden, die dieses Instrument zuvor selbst genutzt haben. Diese Staaten haben ihre eigenen völkerrechtlichen Schutzrechte – insbesondere die Staatenimmunität – durch ihr eigenes Handeln eingeschränkt und Dritten damit die legitime Möglichkeit eröffnet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Essenz lautet: Urteile ich über dich, darfst du auch über mich urteilen.
Nachtrag: Völkerrechtliche Verantwortung von Unternehmen – Eine notwendige Erweiterung des Friedensfonds
Nach Veröffentlichung dieses Artikels verdeutlicht ein aktueller UN-Bericht (vorgelegt von Sonderberichterstatterin Francesca Albanese), warum das Konzept eines Friedensfonds dringend erweitert werden muss: Der Bericht „Anatomy of a Genocide“ (in weiteren Sprachen auch hier zu finden) analysiert israelische Militäroperationen im Gazastreifen und kommt zu dem Schluss, dass hinreichende Anzeichen für einen Völkermord vorliegen. Besonders relevant ist die Feststellung, dass auch Unternehmen eine Mitschuld tragen können, wenn sie Kriegshandlungen ermöglichen oder davon profitieren.
Der Bericht betont:
- Die systematische Zerstörung palästinensischen Lebens erfüllt Tatbestände der UN-Genozidkonvention.
- Unternehmen, die Ressourcen für Kriegsverbrechen liefern oder daran verdienen, machen sich strafrechtlich mitverantwortlich.
- Es wird explizit auf die Prinzipien der Nürnberger Prozesse verwiesen – insbesondere die Aburteilung von Wirtschaftsakteuren, die NS-Verbrechen unterstützten.
Der vorgeschlagene Fonds sollte daher nicht nur Regress von Staaten einfordern, sondern auch Unternehmen, die schuldhaft an Kriegsverbrechen beteiligt sind oder waren, zur Verantwortung ziehen. Konkret bedeutet das:
- Rückforderung von Kriegsgewinnen: Gewinne, die durch Kriegsverbrechen erzielt wurden, können juristisch als „ungerechtfertigte Bereicherung“ angefochten werden – der Fonds könnte entsprechende Ansprüche lokalisieren, erwerben und geltend machen.
- Völkerrecht als Hebel: Da Völkerrecht (wie hier angewandt) in Deutschland laut Art. 25 GG Bestandteil der Rechtsordnung ist, bietet der UN-Bericht eine starke juristische Argumentationsbasis gegen Komplizen von Völkermord – auch vor Zivilgerichten.
Der UN-Bericht liefert nicht nur eine moralische, sondern eine juristisch fundierte Argumentationsbasis. Es geht nicht um Symbolpolitik, sondern um die konkrete Anwendung von Rechtsnormen gegen Kriegsprofiteure – ganz im Geiste Nürnbergs.
Dieser Artikel erschien erstmals am 01.07.2025. Der Nachtrag erschien am 02.07.2025, dabei wurde der ursprüngliche Artikel grundlegend überarbeitet. Der Abschnitt „Die ökonomische Logik des Gerechtigkeitsfonds – Warum sich Frieden rechnen kann“ wurde am 04.07.2025 hinzugefügt. Am 05.07.2025 wurde weitere Absätze hinzugefügt, nämlich der Absatz zur Verrechnung mit Staatssschulden, sowie die beiden letzten Absätze zu den Auswirkungen in Bezug auf das Völkerrecht. Das Beitragsbild ist ein Beispielbild von FlyFin Inc auf Pixabay.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de