Der Begriff „Generationengerechtigkeit“ ist in aller Munde, doch was bedeutet er wirklich? Oft wird er verkürzt auf aktuelle Verteilungskonflikte, wie die Debatte um die Rente. Um das Thema umfassender zu beleuchten, lohnt sich ein zweistufiger Blick: Zuerst eine theoretische Betrachtung des Erbes zwischen den Generationen und dann die Anwendung auf konkrete gesellschaftliche Diskussionen.
Teil 1: Das theoretische Erbe der Generationen – Eine unmögliche, aber erhellende Rechnung
Stellen wir uns rein theoretisch vor, wir könnten den Nettowert dessen berechnen, was eine Generation von der vorherigen erbt und an die nächste weitergibt.
- Was fließt ein? Auf der Habenseite stünden alle Errungenschaften: materielle (von Faustkeil bis zum Quantencomputer), kulturelle (moralische Normen wie das Mordverbot, Kunst wie Musik), institutionelle (Staatsformen, Sozialsysteme) und wissenschaftliche Fortschritte. All das, was eine Generation an Positivem schafft oder weiterentwickelt.
- Was wird abgezogen? Davon abziehen müssten wir zunächst den Wert dessen, was diese Generation selbst bereits von den Vorfahren geerbt hat. Zusätzlich müssten wir die verursachten Schäden bilanzieren: Umweltschäden, aber auch kulturelle oder menschliche Rückschritte, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus, die einen enormen negativen Wert darstellen.
Diese Berechnung ist in der Praxis natürlich undurchführbar. Der Wert von Freiheit, einer stabilen Demokratie oder bahnbrechenden Erfindungen lässt sich kaum in Zahlen fassen. Und ganz gerecht kann unser Modell auch nicht sein, so berücksichtigt es beispielsweise besondere Umstände nicht, mit denen manchen Generationen mehr als andere umzugehen hatten. Als Beispiel seien der klimatische Wandel oder auch Seuchen genannt. Dennoch dient dieses Gedankenexperiment einem Zweck: Es macht deutlich, dass jede heutige Generation auf einem nahezu unermesslichen positiven Erbe aufbaut, das über Jahrtausende von unzähligen vorherigen Generationen geschaffen wurde.
Angesichts dieses gigantischen Erbes erscheinen aktuelle Probleme, wie der menschengemachte Anteil des Klimawandels, in einem anderen Licht. Sie sind ernst und müssen dringend angegangen werden, aber im Verhältnis zum Gesamterbe sind sie möglicherweise nicht so überwältigend, wie sie manchmal dargestellt werden.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: die Lebenserwartung. Ohne die gesammelten Errungenschaften der Menschheit läge sie vielleicht bei steinzeitlichen 20 Jahren. Heute liegt sie in vielen Ländern bei deutlich über 70 Jahren. Selbst wenn der Klimawandel sie drastisch senken würde – was eine Katastrophe wäre –, wäre dies im Vergleich zum „Ur-Zustand“ ohne jedes Erbe immer noch ein gewaltiger Nettogewinn.
Dieser Vergleich hinkt natürlich, wenn wir die direkte Generationenfolge betrachten. Für die unmittelbar nachfolgende Generation bedeutet eine solche Reduzierung selbstverständlich einen schmerzhaften Verlust gegenüber dem Zustand, den die vorherige Generation genießen konnte. Auf der anderen Seite: Wenn den Generationen, die die industrielle Revolution auf den Weg brachten, für einen signifikanten Anteil des Klimawandels verantwortlich gemacht werden und ihnen das angelastet wird, dann müssen auch die positiven Aspekte aus der industriellen Revolution mit berücksichtigt werden. Generationengerechtigkeit muss also beide Perspektiven berücksichtigen: das riesige Gesamterbe und die Verantwortung, dieses Erbe möglichst ungeschmälert oder gar verbessert weiterzugeben.
Teil 2: Die deutsche Rentendebatte – Ein Beispiel für verkürzte Diskussionen
Die öffentliche Debatte über die Rente in Deutschland ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Blick auf Generationengerechtigkeit verengt werden kann. Häufig hört man von jungen Menschen das Argument, die Renten der Älteren seien zu hoch und für sie selbst bleibe deshalb nichts übrig.
Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen problematisch, ja geradezu kurzsichtig:
- Instrumentalisierung: Diejenigen, die so argumentieren, erkennen oft nicht, dass sie von interessierten Kreisen instrumentalisiert werden. Das Ziel dieser Kreise ist nicht selten eine generelle Senkung des Rentenniveaus – auch für die zukünftigen Rentner. Wer heute lautstark Rentenkürzungen für die Alten fordert, schaufelt sich möglicherweise sein eigenes Rentengrab.
- Systemlogik des Umlageverfahrens: Die gesetzliche Rente in Deutschland funktioniert nach dem Umlageprinzip. Die Beiträge der aktuell Erwerbstätigen finanzieren die Renten der aktuell Ruheständler. Selbst wenn man die heutigen Renten drastisch kürzen würde, entstünde dadurch kein Sparstrumpf für die Zukunft. Das Geld würde schlicht anderweitig ausgegeben – sei es für Rüstung oder andere Zwecke. Es wird ja bereits heute kritisiert, dass rentenfremde Leistungen aus der Rentenkasse finanziert werden.
- Die Bedeutung der Kinder: Das Umlagesystem ist existenziell auf nachwachsende Generationen angewiesen. Wenn die heute jüngeren und mittleren Generationen nicht mehr ausreichend Kinder bekommen und aufziehen, wird es in Zukunft schlicht weniger Beitragszahler geben, die ihre Renten finanzieren können.
- Die doppelte Leistung der „Alten“: Man darf nicht vergessen, dass die heutigen Rentner in der Regel eine doppelte Leistung erbracht haben: Sie haben durch ihre Beiträge die Renten der Generation vor ihnen finanziert und gleichzeitig die Kinder großgezogen, die heute die Beiträge zahlen. Diese Leistung des Kindergroßziehens war und ist die Voraussetzung für das Funktionieren des Systems.
Wenn nun heutige Generationen die Sicherheit des Rentensystems für sich beanspruchen, aber gleichzeitig den Teil der „Investition“ in die nächste Generation – das Großziehen von Kindern – nicht im gleichen Maße erbringen (wollen oder können), entsteht ein Ungleichgewicht. Die Forderung nach hohen Renten ohne die Bereitschaft, die Grundlage dafür zu schaffen, ist Selbstbetrug.
Dieser Artikel erschien erstmals am 23.04.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild, von Dall-E generiert.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de