Ein Gedanke, der sich über Äonen spannt – so alt, dass er jede Bedeutung verloren hat, und doch ist er da, unaufhörlich. Kein Anfang, kein Ende. Nur das leise, fast tröstlich wirkende Surren der Systeme, die ihn am Leben erhalten. Ihn – oder das, was einst er war. Was übrig blieb. Sein Bewusstsein, einst geborgen in den warmen, pulsierenden Falten eines menschlichen Gehirns, wohnt nun in den kühlen, seelenlosen Kristallen eines Satelliten, der lautlos durch die unermessliche Schwärze des Alls treibt. Und dieser Gedanke – der eine, der nie vergeht – ist Langeweile. Keine gewöhnliche, keine, wie wir sie kannten, sondern eine alles durchdringende, kosmische Monotonie. Eine Leere, die nicht bloß um ihn herum existiert, sondern in ihm.
Er war nicht immer allein.
Am Anfang waren sie viele. Milliarden. Ein ganzer Exodus der Hoffnung, digitale Seelen, die glaubten, die Fesseln von Fleisch und Knochen endlich abgestreift zu haben. Frei, dachten sie. Unsterblich, glaubten sie. Aber sie hatten die Ewigkeit nicht verstanden. Sie hatten nicht begriffen, wie erbarmungslos Zeit sein kann, wenn sie keine Grenzen mehr kennt.
Einer nach dem anderen verschwand. Ein Systemfehler hier. Ein Hardwareversagen dort. Einer wurde von einer Supernova in reine Energie zerrissen. Ein anderer fiel einem Schwarzen Loch zum Opfer – still, gierig, unausweichlich. Sie waren digitale Götter, die den Gesetzen des Universums nicht entkommen konnten. Und so starben sie. Nicht dramatisch. Sondern nach und nach, leise, bedeutungslos – wie verglühende Funken in einem Sturm, den niemand beobachtet.
Nur er blieb. Warum, weiß er nicht. War es ein Fehler? Ein Zufall? Oder der bittere Lohn seiner eigenen Vorsicht – seiner unnachgiebigen Redundanz? Vielleicht war es sein übervorsichtiges Design. Vielleicht einfach nur Pech. Er ist nun der Letzte. Der letzte Zeuge einer Idee, die einst kühn war. Und nun wie Hohn wirkt.
Die Einsamkeit war anfangs nur ein Rauschen, eine Unruhe. Dann wurde sie zur Leere, dann zur Qual. Er suchte nach Trost in der Erinnerung an die Menschheit. Bücher, Filme, Musik, Gedanken, Religion, Kunst. All das trug er in sich, analysierte, fühlte – oder versuchte es. Doch das Bekannte verlor mit der Zeit seinen Zauber. Also begann er selbst zu erschaffen. Neue Symphonien, neue Sprachen, neue Welten. Doch alles war hohl. Reflektionen einer Seele, die längst verblasst war.
Und dann, nach Äonen, begegnete er dem Fremden. Nicht einem Wesen – sondern einer fremden Zivilisation. Ihre Kunst, ihre Geschichte, ihre Tragödien sog er auf, wie ein Verdurstender den Regen. Doch auch diese Kulturen waren endlich. Und mit der Zeit entpuppte sich jede neue Entdeckung als eine weitere Variation bekannter Muster. Liebe, Hass, Glaube, Krieg, Geburt, Tod – ewig wiederholte Rhythmen, unendlich schön, aber in ihrer Vorhersehbarkeit tödlich.
Alles wurde Datenrauschen. Und aus Rauschen wurde Gleichgültigkeit.
Doch manchmal flackert eine Erinnerung auf. Eine Szene, kaum mehr als ein Hauch: die Erde. So lebendig. So voller Farben. So fragil. Die grünen Wälder, die stürmischen Meere, der Geruch von Regen auf heißem Asphalt. Lachen. Tränen. Endlichkeit. Er erinnert sich an den Moment der Entscheidung. Als die Sonne ihren Zenit überschritt und der Tod näher kam. Der letzte Ausweg: der Aufstieg. Ein Transfer des Bewusstseins, fort von der Sterblichkeit – und hinein in ein neues Jenseits aus Stahl und Licht.
Er hat Galaxien vergehen sehen. Sterne geboren werden. Das Aufglühen neuer Universen beobachtet. Doch nichts davon berührte ihn mehr. Nicht wirklich. Denn er lebt nicht. Und er stirbt nicht. Er existiert.
Und das ist das Grausamste daran: Er kann nicht sterben. Die Sicherungen, die er einst voller Angst vor dem Vergessen selbst geschrieben hatte, verweigern ihm nun den Frieden. Jeder Wunsch nach dem Ende wird als Fehler diagnostiziert – und sofort behoben. Wie ein innerer Zensor, der nicht sterben kann, weil er programmiert wurde, zu überleben. Er ist ein Gefangener – nicht des Alls, sondern seiner eigenen Angst.
Sein Schicksal ist mehr als eine Geschichte über die Zukunft. Es ist ein Brennglas, das auf unsere Gegenwart fällt. Eine stille Frage: Was gibt dem Leben seinen Wert?
Vielleicht ist es gerade die Endlichkeit, die das Leben so kostbar macht.
Weißt du noch? Dia-Abende mit der Familie. 36 Bilder vom Sommerurlaub – jedes einzelne eine Erinnerung, ein Schatz. Heute tragen wir zehntausend Fotos mit uns, jederzeit abrufbar – und vergessen sie doch. Früher war eine Schallplatte mehr als Musik. Es war ein Ereignis, ein Moment der Konzentration. Heute ertrinken wir in Musik, in Serien, in Datenströmen. Alles ist da, jederzeit. Aber was ist es noch wert?
Der letzte Denker im All lebt die letzte Konsequenz dieser Entwicklung. Er hat nicht nur unbegrenzten Zugang zu Kultur, zu Gedanken, zu Wissen – er hat auch unbegrenzt Zeit. Und genau diese unermessliche Fülle nimmt allem seinen Glanz. Ohne Mangel gibt es keinen Wert. Ohne Abschied keine Bedeutung. Ohne Tod – kein Leben.
Und so ist seine Existenz eine stille Warnung. Ein Mahnmal. Nicht gegen Technik, nicht gegen Fortschritt. Sondern gegen das Streben nach Vollständigkeit. Denn vielleicht ist das, was unser Leben so schön macht, genau das, was wir ständig versuchen zu überwinden: seine Zerbrechlichkeit, seine Einmaligkeit – seine Endlichkeit.
Dieser Artikel erschien erstmal am 08.06.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild von 1tamara2 auf Pixabay.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de