In der physikalischen Welt wird Arbeit als Produkt aus Kraft und Weg definiert, während Leistung als Arbeit pro Zeiteinheit beschrieben wird. Doch wenn wir den Begriff „Arbeit“ in einem sozialen und gesellschaftlichen Kontext betrachten, wird die Interpretation weitaus komplexer. Die gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit und Leistung sowie der Stolz darauf sind Themen, die uns alle betreffen. Doch ist dieser Stolz überhaupt gerechtfertigt?
„All das habe ich mit meinen eigenen Händen erschaffen“, könnte ein stolzer Handwerker sagen, der sein fertiges Werk präsentiert. In dieser Aussage schwingt die implizite Bewertung mit, dass jemand, der weniger erreicht hat, auch weniger wertvoll ist. Diese Bewertung wird besonders deutlich, wenn Menschen als faul bezeichnet werden – ihnen begegnet die Gesellschaft oft mit offener Verachtung.
Doch diese Perspektive ignoriert viele Faktoren, die unsere Fähigkeit und Motivation zur Arbeit beeinflussen. Beispielsweise ist jedem wohl schon einmal aufgefallen, dass Arbeit, die Freude bereitet und erfüllend ist, oft nicht als belastend empfunden wird. Im Gegensatz dazu kann es eine enorme Herausforderung sein, sich für Aufgaben zu motivieren, die uns widerstreben. Dies zeigt, dass die gleiche Arbeit für verschiedene Menschen unterschiedlich herausfordernd sein kann. Ein erster Grund, die moralische Bewertung von Arbeit zu hinterfragen.
Weitere Faktoren, die unsere Arbeitsleistung beeinflussen, sind unsere Gesundheit und körperliche Verfassung. Drogenkonsumenten berichten oft von Substanzen, die die Motivation entweder hemmen oder steigern können. Doch auch ohne den Konsum von Drogen kann unsere Körperchemie unseren Antrieb erheblich beeinflussen (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2732004/).
Auch Talente spielen eine entscheidende Rolle. Es ist selbstverständlich, dass Menschen mit bestimmten Talenten in den entsprechenden Bereichen leichter arbeiten können. Doch ist das eine gerechtfertigte Grundlage für Stolz?
Angenommen, zwei Männer verrichten die gleiche Aufgabe: Der eine hat daran Spaß, und die Arbeit geht ihm leicht von der Hand. Er erledigt sie schneller, besser und empfindet sie gar nicht als Arbeit. Dem anderen liegt diese Aufgabe überhaupt nicht; er hasst sie regelrecht. Deshalb fällt sie ihm schwer, und die Qualität seiner Arbeit ist, obwohl er sich trotz seiner Abneigung große Mühe gibt, schlechter als die des anderen Mannes. Der erste Mann ist stolz auf das Ergebnis seiner Arbeit – aber warum eigentlich? War die Anstrengung des zweiten Mannes nicht viel größer?
Es gibt äußerlich gesunde Menschen, die sich in Lebensphasen befinden, in denen es ihnen schwerfällt, überhaupt zu arbeiten. Anderen wiederum fällt es leicht. Das sind die darüber gefällten Urteile oft einfach ungerecht.
Aber es gibt auch eine bemerkenswerte Ausnahme von der Regel, dass Menschen nach ihrer Leistung beurteilt werden: reiche Menschen, die oft als sogenannte Leistungsträger bezeichnet werden. In diesem Fall ist die Bezeichnung jedoch völlig unabhängig von der tatsächlichen Leistung. Wir erliegen hier einem Denkfehler, der besagt: „Wer so viel besitzt, muss auch entsprechend viel geleistet haben.“ Dieser Irrtum wird durch die positive Darstellung des Kapitalismus verstärkt, der suggeriert, dass große Vermögen durch eigene Arbeit entstanden sind. Tatsächlich beruhen diese Vermögen jedoch fast ausnahmslos auf der Arbeit Dritter.
Die meisten von uns finden Stolz in der eigenen Leistung gerechtfertigt, die Argumente in diesem Text stellen die Grundlage des Selbstwertgefühls infrage. Wenn die eigene Leistung keine ausreichende Grundlage für Stolz ist, was dann? Das Konzept des Stolzes impliziert oft, sich auf einer höheren Stufe als andere zu sehen. Doch sollte unser Selbstwert nicht eher von einer Perspektive geprägt sein, die jedem Menschen den gleichen Wert zuschreibt, unabhängig von seiner Arbeitsleistung?
Das ist nicht nur eine theoretische Frage. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Verachtung von Menschen, die weniger leisten wollten oder konnten, zu schrecklichen Verbrechen geführt hat. Erinnert sei nur an die Nationalsozialisten, die Menschen als ‚nutzlose Esser‘ bezeichneten und gezielt ermordeten, wenn sie der Meinung waren, die Leistung der Opfer sei nicht ausreichend.
Dieser Artikel wurde am 04.11.2023 erstellt und am 27.12.2024 überarbeitet. Das Artikelbild ist ein Beispielbild, es wurde von Dall-E erstellt.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de