Gruppendenken statt kluge Strategie? Was die Ursache dafür sein könnte, dass Europas Ukrainepolitik in eine gefährliche Falle geraten ist

Seit Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 haben sich die politischen Eliten Europas mit bemerkenswerter Geschlossenheit hinter eine klare Linie gestellt: massive Unterstützung für die Ukraine durch Waffenlieferungen, Wirtschaftssanktionen gegen Russland und eine politische und moralische Frontstellung gegen den Kreml. Bei näherer Betrachtung drängt sich eine unbequeme Frage auf: Handeln die politischen Entscheidungsträger tatsächlich auf Grundlage einer nüchternen Analyse – oder unterliegen sie dem psychologischen Phänomen des Gruppendenkens?

Was ist Gruppendenken?

Der Begriff „Gruppendenken“ (engl. groupthink) stammt vom US-amerikanischen Sozialpsychologen Irving Janis. Er untersuchte historische Fehlentscheidungen mächtiger Gruppen, etwa den desaströsen Vietnamkrieg oder die Schweinebucht-Invasion. Janis stellte fest, dass Gruppen mit starkem Zusammenhalt dazu neigen, abweichende Meinungen zu unterdrücken, kritische Warnungen zu ignorieren und sich selbst zu überschätzen – um eine scheinbare Einigkeit zu wahren.

Ausführlicher erklärt: Was ist Gruppendenken?

Der Begriff „Gruppendenken“ wurde 1972 vom Psychologen Irving Janis geprägt. Er beschreibt eine Denkweise in eng geschlossenen Gruppen, bei der das Bedürfnis nach Einmütigkeit stärker ist als der Wille zur realistischen Analyse. Typische Symptome sind:

  • Illusion der Unverwundbarkeit: Die Gruppe ist übermäßig optimistisch und geht übermäßige Risiken ein.
  • Kollektive Rationalisierung: Warnungen und negative Rückmeldungen werden ignoriert oder wegerklärt. Abwertung oder Ausblendung abweichender Meinungen.
  • Glaube an die moralische Überlegenheit der Gruppe: Die Gruppe glaubt, ethisch und moralisch richtig zu handeln, und ignoriert die ethischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Überschätzung der eigenen Position („Wir machen alles richtig“).
  • Stereotypisierung von Außenstehenden/Gegnern: Gegner werden als zu böse, zu schwach oder zu dumm angesehen, um eine echte Bedrohung darzustellen oder Verhandlungen wert zu sein.
  • Druck auf Abweichler: Mitglieder, die Zweifel äußern oder anderer Meinung sind, werden unter Druck gesetzt, sich der Gruppenmeinung anzuschließen. Einseitige Wahrnehmung von Gegnern als „böse“ oder irrational.
  • Selbstzensur: Mitglieder halten eigene Zweifel oder abweichende Ideen zurück, um die Harmonie nicht zu stören.
  • Illusion der Einstimmigkeit: Schweigen wird fälschlicherweise als Zustimmung interpretiert.
  • „Mindguards“: Einzelne Mitglieder schützen die Gruppe aktiv vor Informationen, die den Konsens oder die Moral der Gruppe in Frage stellen könnten.

Janis zeigte: Gruppendenken führt oft zu schweren Fehlentscheidungen, weil Alternativen nicht geprüft und Risiken unterschätzt werden. Besonders in der Politik kann das verheerende Folgen haben.

Kurz gesagt: Gruppendenken entsteht, wenn das Streben nach Harmonie und Konsens wichtiger wird als kluge, kritische Entscheidungsfindung.

Die Symptome des Gruppendenkens – und ihre Entsprechung in der Ukrainepolitik

  1. Illusion der Unverwundbarkeit:
    Die Vorstellung, der Westen könne Russland durch Sanktionen und militärische Unterstützung der Ukraine „kleinhalten“, geht it einer Selbstüberschätzung einher. Die Risiken einer Eskalation, einer wirtschaftlichen Rückwirkung auf Europa oder einer strategischen Neuordnung der Weltordnung werden dabei weitgehend verdrängt.
  2. Kollektive Rationalisierung:
    Kritische Fragen – etwa zur Wirksamkeit der Sanktionen, zur moralischen Verantwortung für die Eskalationsspirale oder zur Chance auf diplomatische Lösungen – werden oft als „russlandfreundlich“ oder „naiv“ abgetan. Statt echte Diskussionen zu führen, werden Einwände wegerklärt.
  3. Glaube an die moralische Überlegenheit:
    Europa sieht sich als Hüter westlicher Werte – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Problematisch ist das, weil dieser Glaube dazu führt, dass man sich selbst automatisch auf der „richtigen“ Seite wähnt – und dadurch nicht mehr bereit ist, sich in die Interessen oder Perspektiven der anderen Seite hineinzuversetzen.
  4. Stereotypisierung des Gegners:
    Russland wird i. d. R. als irrationaler Aggressor dargestellt, als „Putins Reich des Bösen“. Eine solch einseitige Darstellung verhindert eine nüchterne Auseinandersetzung mit den geopolitischen, historischen und wirtschaftlichen Hintergründen des Konflikts.
  5. Druck auf Abweichler:
    Wer öffentlich eine andere Position einnimmt – etwa für eine Verhandlungslösung plädiert – wird rasch zum Feindbild. Prominente Beispiele sind Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer. Die Bandbreite des Sagbaren wird so massiv eingeschränkt.
  6. Selbstzensur und Illusion der Einmütigkeit:
    Viele Politikerinnen und Politiker schweigen lieber, wenn sie Zweifel an der vorherrschenden Linie haben. Sie fürchten um ihre Glaubwürdigkeit oder ihre Karriere. Dadurch entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – obwohl dieser in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Was bedeutet das für Europas Handlungsfähigkeit?

Wenn Gruppendenken die Politik bestimmt, verliert eine Gesellschaft die Fähigkeit, flexibel und rational zu reagieren. Strategien werden nicht hinterfragt, Kurswechsel werden als Schwäche interpretiert, neue Ideen als gefährlich.

Gerade im Ukrainekrieg – einer Situation mit unklarer Dauer, unkalkulierbaren Risiken und globaler Sprengkraft – ist ein solcher Tunnelblick gefährlich. Eine offene Debatte über Alternativen (etwa über Waffenstillstand, Diplomatie oder neue europäische Sicherheitsarchitekturen) wäre kein Zeichen von Schwäche, sondern von Reife.

Demokratie braucht Dissens

Demokratische Entscheidungsfindung lebt vom Streit, vom Aushalten unterschiedlicher Perspektiven und vom Ringen um kluge Lösungen. Wenn jedoch nur noch eine Meinung „richtig“ ist, wenn Andersdenkende ausgegrenzt und Debatten als gefährlich dargestellt werden, gerät die Demokratie selbst unter Druck.

Ein kluger Umgang mit dem Ukrainekrieg braucht mehr als Mut zur Solidarität – er braucht auch Mut zum Zweifel, zur Selbstkritik und zur Korrektur. Europa darf nicht in der Gruppendenken-Falle landen. Denn das wäre nicht nur politisch fahrlässig, sondern letztlich auch ein Verrat an den eigenen demokratischen Idealen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 20.04.2025. Das Beitragsbild (Schaubild Gruppendenken) stammt von Wikipedia, es basiert auf dem Modell des Gruppendenkens von Irving Janis.Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de