Jeannette Rankin (1880-1973) nimmt einen einzigartigen Platz in der amerikanischen Geschichte ein. Sie war nicht nur die erste Frau, die jemals in den Kongress der Vereinigten Staaten gewählt wurde, sondern auch eine der konsequentesten und mutigsten Pazifistinnen, die das Land je hervorgebracht hat. Ihr Leben war geprägt von einem unerschütterlichen Glauben an soziale Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit – Prinzipien, für die sie bereit war, immense politische und persönliche Kosten zu tragen, insbesondere durch ihre kontroversen Abstimmungen gegen die Beteiligung der USA an beiden Weltkriegen. Ihre Geschichte ist die einer Pionierin, aber auch die eines Symbols für den Mut zum Widerstand gegen den Strom.
Frühe Jahre: Prägung durch Wohlstand, Bildung und soziale Fragen
Geboren am 11. Juni 1880 auf einer Ranch nahe Missoula, Montana, wuchs Jeannette Pickering Rankin als ältestes von sieben Kindern auf. Ihr Vater, John Rankin, ein Einwanderer aus Kanada, hatte sich vom Zimmermann zum erfolgreichen Rancher, Holz- und Bauunternehmer hochgearbeitet. Ihre Mutter, Olive Pickering Rankin, war eine gebildete Schullehrerin. Dieser Hintergrund ermöglichte Jeannette eine hervorragende Ausbildung – keine Selbstverständlichkeit für Frauen ihrer Zeit. Sie schloss 1902 ihr Biologiestudium an der University of Montana ab.
Doch die reine Wissenschaft genügte ihr nicht. Getrieben von einem starken sozialen Gewissen und dem Wunsch nach sinnstiftender Tätigkeit, wandte sie sich der Sozialarbeit zu. Sie studierte an der renommierten New York School of Philanthropy (heute Teil der Columbia University) und sammelte praktische Erfahrungen in den Armenvierteln von Spokane und Seattle. Diese Arbeit konfrontierte sie unmittelbar mit den Schattenseiten des industriellen Zeitalters – Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit – und bestärkte sie in ihrem Streben nach grundlegenden gesellschaftlichen Reformen.
Der Weg in die Politik: Frauenwahlrecht als Sprungbrett
Rankins Organisationstalent und ihre Überzeugungskraft zeigten sich bald in der aufstrebenden Frauenstimmrechtsbewegung. Sie wurde zu einer zentralen Figur im Kampf für das Frauenwahlrecht im Westen der USA. Ihr größter Triumph war die erfolgreiche Kampagne von 1914, die den Frauen in ihrer Heimat Montana das Wahlrecht sicherte. Dieser Erfolg, kombiniert mit ihrer Bekanntheit und ihrem Ruf als engagierte Reformerin, ebnete ihr den Weg für einen historischen Schritt: 1916 kandidierte sie als Republikanerin für einen der beiden Sitze Montanas im US-Repräsentantenhaus und gewann. Sie zog als erste Frau überhaupt in den Kongress ein – vier Jahre bevor der 19. Verfassungszusatz Frauen landesweit das Wahlrecht garantierte.
Die Wurzeln eines tiefen Pazifismus
Jeannette Rankins Pazifismus war keine politische Laune, sondern eine tief verwurzelte Überzeugung, die sich aus verschiedenen Quellen speiste:
- Sozialreformerischer Geist: Geprägt von einer progressiven Ära und der Social-Gospel-Bewegung, die ethisches Handeln und soziale Gerechtigkeit ins Zentrum rückten, sah sie Krieg als das ultimative soziale Übel, das Fortschritt verhindert und Leid schafft. Ihre Arbeit als Sozialarbeiterin bestärkte sie darin, konstruktive Lösungen für Probleme zu suchen, nicht destruktive.
- Frauenrechte und Frieden: Wie viele führende Suffragistinnen (etwa Jane Addams) sah Rankin eine untrennbare Verbindung zwischen der Stärkung der Rolle der Frau und der Förderung des Friedens. Sie glaubte, dass Frauen als Hüterinnen des Lebens eine besondere moralische Verpflichtung hätten, sich gegen Krieg und Gewalt zu wenden. Krieg war für sie Ausdruck einer patriarchalen, destruktiven Logik.
- Persönliche Ethik: Im Kern stand eine fundamentale ethische Ablehnung von Gewalt und Töten. Rankin glaubte an die Kraft der Diplomatie, der internationalen Zusammenarbeit und der gewaltfreien Konfliktlösung.
Die erste Zerreißprobe: Der Eintritt in den Ersten Weltkrieg (1917)
Kaum im Amt, stand Rankin vor einer dramatischen Entscheidung. Im April 1917 forderte Präsident Woodrow Wilson den Kongress auf, Deutschland den Krieg zu erklären. In einer Atmosphäre aufgeladenen Patriotismus‘ und unter massivem Druck stimmte Rankin – zusammen mit 49 männlichen Kollegen – gegen die Kriegserklärung. Ihre Begründung ging in die Geschichte ein: „Ich möchte für mein Land einstehen, aber ich kann nicht für den Krieg stimmen. Ich stimme dagegen.“
Die Reaktion war heftig. Obwohl sie nicht allein war, wurde sie als die Frau im Kongress zur Hauptzielscheibe der Kritik:
- Mediale Angriffe: Zeitungen im ganzen Land stellten sie als „hysterisch“, „emotional“ und „unfähig“ dar. Ihr Votum wurde als Beweis missbraucht, dass Frauen für die harte politische Realität ungeeignet seien. Schlagzeilen betonten, sie habe bei der Abstimmung geweint.
- Politische Folgen: Sie wurde von vielen Kollegen gemieden, ihre politische Handlungsfähigkeit litt. Die Presse in Montana wandte sich gegen sie. Man warf ihr Illoyalität und Deutschfreundlichkeit vor. Sie erhielt Drohbriefe und wurde in Karikaturen verspottet. Dieser Widerstand trug maßgeblich dazu bei, dass sie 1918 nicht wiedergewählt wurde (sie kandidierte stattdessen erfolglos für den Senat).
Zwischen den Kriegen: Unermüdliche Friedensarbeit
Rankin ließ sich nicht entmutigen. In den über zwanzig Jahren zwischen ihren beiden Amtszeiten engagierte sie sich unermüdlich weiter für soziale Gerechtigkeit und vor allem für die Friedensbewegung. Sie arbeitete für Organisationen wie die Women’s International League for Peace and Freedom und setzte sich für Abrüstung und internationale Schiedsgerichtsbarkeit ein. Ihr Pazifismus blieb ihr Leitstern.
Rückkehr und die einsame Stimme gegen den Zweiten Weltkrieg (1941)
Überraschend kehrte Rankin 1940 für Montana in den Kongress zurück. Die Welt stand erneut am Abgrund. Am 7. Dezember 1941 erfolgte der japanische Angriff auf Pearl Harbor, der die USA in Schock und Wut versetzte. Am folgenden Tag trat der Kongress zusammen, um Japan den Krieg zu erklären. In einer von Rachegelüsten und dem Ruf nach nationaler Einheit erfüllten Atmosphäre traf Jeannette Rankin die einsamste Entscheidung ihrer Laufbahn.
Im Repräsentantenhaus lautete das Ergebnis 388 zu 1. Im Senat gab es keine Gegenstimmen. Diese eine Stimme gegen den Krieg im gesamten Kongress war ihre. Berichten zufolge sagte sie bei der Abstimmung: „Als Frau kann ich nicht in den Krieg ziehen, und ich weigere mich, jemand anderen zu schicken.“
Der Sturm nach Pearl Harbor: Brutale Anfeindungen und absolute Isolation
Die Reaktion auf Rankins Votum von 1941 stellte alles in den Schatten, was sie 1917 erlebt hatte. Die Wut und das Unverständnis waren grenzenlos:
- Tumulte im Kongress: Ihre „Nein“-Stimme löste Buhrufe, Zischen und wütende Zwischenrufe im Plenarsaal aus. Kollegen schrien sie an. Sie wurde zum unmittelbaren Objekt der Verachtung.
- Physische Bedrohung: Nach der Sitzung war sie im Kapitol von einer aufgebrachten Menge umringt. Sie musste von der Kapitolpolizei in Sicherheit gebracht werden, nachdem sie sich Berichten zufolge in eine Telefonzelle geflüchtet hatte, um dem Mob zu entkommen.
- Mediale Hetzjagd: Die Presse war gnadenlos. Sie wurde als „Japannette Rankin“ verhöhnt, als Verräterin, als senile, realitätsferne Fanatikerin dargestellt. Ihr Votum wurde als „Schandfleck für die Nation“ und „Akt des Verrats“ bezeichnet.
- Hass und Drohungen: Sie wurde mit Säcken voller Hassbriefe und Telegramme überschüttet. Morddrohungen waren an der Tagesordnung. Sie wurde über Nacht zur meistgehassten Person Amerikas.
- Vollständige Isolation: Anders als 1917 stand sie nun völlig allein da. Selbst frühere politische Verbündete und Friedensaktivisten distanzierten sich oder schwiegen angesichts des nationalen Traumas von Pearl Harbor. Sie war eine politische Ausgestoßene, eine Paria. Ihre politische Karriere war damit endgültig zerstört. Sie trat 1942 nicht mehr zur Wahl an.
Spätes Leben: Eine ungebrochene Stimme für den Frieden
Auch nach ihrem Abschied aus der offiziellen Politik blieb Jeannette Rankin ihrer Überzeugung treu. Sie reiste viel, unter anderem nach Indien, wo sie sich intensiv mit Mahatma Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit auseinandersetzte. Im hohen Alter erlebte sie eine Art Comeback als Ikone der Friedensbewegung während des Vietnamkriegs. In den 1960er Jahren führte sie, inzwischen über 80 Jahre alt, Demonstrationen an und gründete die „Jeannette Rankin Brigade“, um gegen den Krieg zu protestieren.
Vermächtnis: Pionierin, Pazifistin, Mahnerin
Jeannette Rankins Vermächtnis ist komplex und beeindruckend. Sie war die unbestrittene Pionierin, die Frauen den Weg in die höchste Ebene der amerikanischen Politik ebnete. Gleichzeitig verkörpert sie wie kaum eine andere Persönlichkeit den Mut zum prinzipientreuen Pazifismus, selbst unter extremstem Druck. Ihre beiden historischen „Nein“-Stimmen gegen die Weltkriege machten sie zur Symbolfigur des Widerstands gegen Krieg und Militarismus. Die brutalen Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war, zeigen eindrücklich den Preis, den Dissens in Zeiten nationaler Hysterie fordern kann. Jeannette Rankin bewies jedoch, dass es möglich ist, an tiefen ethischen Überzeugungen festzuhalten, auch wenn man dafür geächtet und isoliert wird.
Dieser Artikel erschien erstmals am 20.04.2025. Das Beitragsbild „For Congress, Jeannette Rankin, Republican Ticket“ ist als „Public domain photograph of politician, government and politics, free to use, no copyright restrictions image“ von der Quelle: https://itoldya420.getarchive.net/amp/media/for-congress-jeannette-rankin-republican-ticket-94782e übernommen worden.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de