Wer war der erste Sozialreformer?

Ein heißer Kandidat für dieses Prädikat wäre Urukagina. Zwar sind wir nicht sicher, ob er der allererste Sozialreformer war, aber er ist zumindest der erste, von dem ausführlichere Reformen überliefert sind. Wir wollen hier seine Geschichte erzählen.

Unsere Reise führt uns ins späte Frühdynastikum IIIb, etwa 2500-2340 v. Chr., ins sumerische Mesopotamien. Hier, im Stadtstaat Lagasch, herrschte Urukagina (auch Uruinimgina oder Irikagina genannt). Er war der letzte Herrscher der Ersten Dynastie von Lagasch, seine Regierungszeit wird auf etwa 2350 v. Chr. datiert. Seine Bedeutung rührt nicht aus kriegerischen Eroberungen, sondern aus einem tiefgreifenden Versuch, die Gesellschaft von Lagasch neu zu ordnen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.

Die Zeit vor Urukagina war von tiefem Verfall geprägt. Sein Vorgänger, Lugalanda, und seine Frau Baranamtara nutzten ihre Macht für schamlose Selbstbereicherung. Sie beschlagnahmten Tempelländereien und häuften riesigen persönlichen Besitz an. Korruption grassierte auf allen Ebenen. Beamte eigneten sich staatliche Besitztümer an – Boote, Vieh, Fischvorräte. Selbst Priester verlangten überhöhte Gebühren für ihre Dienste, besonders für Bestattungen, was die Bevölkerung zusätzlich belastete. Die einfachen Leute litten unter der Willkür der Mächtigen: Ihre Obstgärten wurden beschlagnahmt, sie wurden zu Zwangsarbeit herangezogen und mächtige Aristokraten zwangen sie, ihr Eigentum zu Spottpreisen zu verkaufen. Witwen und Waisen waren schutzlos der Gnade der Reichen ausgeliefert. Die Quellen beschreiben Lugalandas Herrschaft als „abscheulich korrupt“.

Inmitten dieses Chaos trat Urukagina auf den Plan. Er stürzte Lugalanda. Seine Machtübernahme war bemerkenswert, da er keine königliche Abstammung beanspruchte. Stattdessen verkündete er, vom Stadtgott Ningirsu erwählt worden zu sein, um die Ordnung wiederherzustellen. Er präsentierte sich als Auserwählter der Götter und gleichzeitig als Beschützer des einfachen Volkes – der Bootsleute, Hirten, Fischer und Bauern.

Urukaginas Handlungen sind durch seine „Reformen“ bekannt, die auf Tonkegeln und -tafeln dokumentiert sind. Diese Texte beginnen oft mit einer Klage über die Zustände vor seiner Herrschaft und listen dann seine eingeführten „neuen Regelungen“ auf. Er stellte seine Reformen als einen Bund mit dem Gott Ningirsu dar.

Ein Kernstück seiner Reformen war der Kampf gegen Korruption. Er entließ korrupte Beamte, die staatliche Besitztümer oder Abgaben für sich vereinnahmt hatten. Auch die Macht der Priesterschaft und der großen Landbesitzer wurde eingeschränkt. Tempelverwaltern wurde verboten, die Gärten der Armen zu plündern. Urukagina zielte darauf ab, die allgegenwärtige Ausbeutung durch Amtsträger zu beenden.

Von besonderer Bedeutung war sein Engagement für die Schwachen. Urukaginas Reformen garantierten, dass „die Witwe und die Waise nicht länger der Gnade des Mächtigen ausgeliefert waren“. Witwen und Waisen wurden von Steuern befreit. Die Kosten für Bestattungen wurden standardisiert und begrenzt, um zu verhindern, dass arme Familien von den Priestern ausgebeutet wurden. Reichen wurde vorgeschrieben, faire Preise in Silber zu zahlen, wenn sie Eigentum von den Armen erwarben, und es wurde ihnen verboten, die Armen zum Verkauf zu zwingen oder sie zu schlagen, wenn sie sich weigerten. Es wurden Maßnahmen gegen die Beschlagnahme von Eigentum und Personen ergriffen und sogar spezifische Brotrationen für Blinde festgelegt.

Auf wirtschaftlicher Ebene führte Urukagina einen Schuldenerlass durch, der Familien von Verpflichtungen befreite, die durch Getreidesteuern, Diebstahl oder Mord entstanden waren. Er konfiszierte Ländereien seines korrupten Vorgängers und gab Tempelländereien zurück, die zuvor beschlagnahmt worden waren.

Auch soziale Bräuche wurden reformiert. Urukagina schaffte den „früheren Brauch der Polyandrie“ (eine Frau mit mehreren Ehemännern) ab, ein Gesetz, das in Mesopotamien sonst nicht belegt ist.

Die vielleicht berühmteste Hinterlassenschaft Urukaginas ist der Begriff „ama-gi“, der erstmals in seinen Inschriften erscheint. Wörtlich bedeutet er „Rückkehr zur Mutter“. Seine genaue Bedeutung ist umstritten, wird aber oft als „Freiheit“ interpretiert, insbesondere im Sinne der Befreiung von Schuldknechtschaft. Dieser Begriff ist bis heute ein Symbol für Freiheit.

Urukaginas Reformen waren ein mutiger und umfassender Versuch, die Gesellschaft von Lagasch gerechter zu gestalten. Er war der erste, der ausdrücklich die Idee formulierte, dass der Herrscher im Auftrag des Stadtgottes die Pflicht hat, soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten und die Schwachen zu schützen. Obwohl seine Herrschaft nur etwa sieben Jahre dauerte und Lagasch letztendlich von Lugalzagesi von Umma erobert und zerstört wurde, hinterließ Urukagina ein bleibendes Erbe. Seine Reformen gelten als wichtiger Vorläufer späterer mesopotamischer Gesetzbücher und sein Name bleibt mit dem frühen Streben nach einer besseren, gerechteren Gesellschaft verbunden.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11.05.2025. Das Artikelbild ist von BenFishold auf Pixabay

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de