Es ist einige Jahre her. Damals arbeitete ich noch im Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Alexander Neu. An einem dieser Tage betrat ein Mann mein Büro, der die Schwelle zum hundertsten Lebensjahr fast überschritten hatte: Johann Hansen. Er kam nicht, um von Heldentaten zu erzählen, sondern weil ihn ein tiefes Gefühl des Unrechts bis ins hohe Alter nicht losließ. Eine Ungerechtigkeit, die ihn Jahrzehnte seines Lebens begleitet hatte und deren Ursprung in einer der dunkelsten Ecken der deutschen Nachkriegsgeschichte lag.
Johann Hansen war ein Mann, der das Grauen des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib erfahren hatte. Er hatte die Schlacht von Stalingrad erlebt und, wie durch ein Wunder, überlebt. Die Schrecken, von denen er mir mit brüchiger Stimme berichtete – und mir ausdrücklich erlaubte, seine Geschichte weiterzutragen –, lassen einen erschaudern. (Ich besitze noch irgendwo eine Videoaufnahme unseres Gesprächs, die ich bei Gelegenheit veröffentlichen werde).
Doch der Grund seines Besuchs war ein anderer. Über Jahre hinweg hatte er eine zu niedrige Rente, oder genauer gesagt, eine zu niedrige Pension erhalten. Der Grund dafür lag Jahrzehnte zurück, in der Zeit nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft.
Nach dem Krieg fand Hansen Arbeit, zunächst Ende der 60er Jahre in einem metallverarbeitenden Betrieb in Sankt Augustin. Später wechselte er zum Postministerium, wo er als Pförtner tätig war und einen Antrag auf Verbeamtung stellte. Zu dieser Zeit gab es eine Regelung, die für Männer wie ihn gedacht war: Ehemalige Soldaten sollten ihre Jahre in Kriegsgefangenschaft auf die Pensionszeit angerechnet bekommen. Eine späte, aber wichtige Anerkennung.
Doch Johann Hansens Verbeamtung zog sich auf unerklärliche Weise hin. Kollegen, die nach ihm kamen, zogen an ihm vorbei. Den Grund erfuhr er nicht. Erst nach Jahren wurde er doch noch verbeamtet – aber zu spät. Die Regelung zur Anrechnung der Kriegsgefangenschaft war inzwischen ausgelaufen. Seine Pension fiel dadurch deutlich geringer aus, als sie hätte sein müssen. Ein finanzieller Nachteil, der ihn sein restliches Leben begleitete.
„Jetzt bin ich fast 100 Jahre alt“, sagte er mit einer Mischung aus Zorn und Resignation, als er mir gegenübersaß. „Überlegen Sie mal, wie viele Jahrzehnte mir dieses Unrecht widerfährt!“
Den wahren Grund für die jahrelange Verzögerung erfuhr Hansen erst nach seiner Pensionierung, als er endlich Einblick in seine Personalakte erhielt. Dort fand er einen Vermerk, der auf eine Begebenheit in Sankt Augustin zurückging. Er muss dort einmal zu einem Kollegen gesagt haben: „In der SBZ war auch nicht alles schlecht.“ (SBZ stand für die Sowjetische Besatzungszone). Eine scheinbar harmlose Bemerkung, eine differenzierte Äußerung in einer politisch aufgeladenen Zeit.
Doch diese eine Aussage hatte gereicht. Der zuständige Ministerialdirigent im Postministerium hatte aufgrund dieses Satzes entschieden, Johann Hansen als „unzuverlässig“ einzustufen und seine Verbeamtung jahrelang zu blockieren. Der Name dieses Ministerialdirigenten: Lothar Weirauch.
Wer aber war dieser Horst Weihrauch, der über die Zuverlässigkeit eines Stalingrad-Überlebenden urteilte? Die Recherche zu diesem Namen fördert eine der schillerndsten und zugleich skrupellosesten Biografien der deutschen Nachkriegszeit zutage.
Lothar Weirauch (1914-1983) war weit mehr als nur ein Ministerialdirigent. Seine Karriere begann im NS-Regime. Als SS-Obersturmbannführer war er im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) tätig und dort tief in die Organisation der Judendeportationen verstrickt. Es gibt Hinweise darauf, dass er sogar an einer der Folgekonferenzen zur Wannseekonferenz teilgenommen haben soll, bei denen die Details des Holocaust organisiert wurden.
Nach dem Krieg gelang es Weihrauch, wie so vielen anderen NS-Tätern, seine Weste reinzuwaschen und in der jungen Bundesrepublik erneut Karriere zu machen. Er wurde Bundesgeschäftsführer der FDP. Mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen seiner NS-Vergangenheit in den 60er und erneut Anfang der 70er Jahre, als neue Beweise auftauchten, verliefen im Sande oder wurden eingestellt. Er starb 1983, ohne jemals für seine Beteiligung am Massenmord zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Doch damit nicht genug: Wie nach der Wende bekannt wurde, arbeitete Weirauch, der FDP-Politiker und ehemalige SS-Mann, über Jahre hinweg auch als Spion für die Stasi der DDR.
Genau dieser Mann – ein Schreibtischtäter im Dienst der Nazis, mutmaßlich beteiligt an Massenmord, später FDP-Funktionär und gleichzeitig Stasi-Spion – genau dieser Lothar Weirauch stufte also Johann Hansen, den einfachen Pförtner und Stalingrad-Überlebenden, wegen der Bemerkung „In der SBZ war auch nicht alles schlecht“ als „unzuverlässig“ ein. Ein Mann, dessen eigene Vita von Verrat, Verbrechen und ideologischer Flexibilität geprägt war, verhinderte die gerechte Behandlung eines Kriegsopfers aufgrund einer harmlosen Äußerung.
Wenn ich heute an Johann Hansen und sein Schicksal denke, überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Die Geschichte von Lothar Weirauch, dem Denunzianten im Ministerium, ist mehr als nur eine tragische Anekdote. Sie ist eine Mahnung. Eine Mahnung davor, wie schnell ein Klima der Verdächtigung und der Gesinnungsschnüffelei entstehen kann. Eine Mahnung davor, welche Charaktere in einem solchen Klima nach oben gespült werden und über das Schicksal anderer entscheiden.
Der Nazi-Verbrecher. Der Stasi-Spion. Der FDP-Bundesgeschäftsführer. Der Denunziant. Lothar Weirauch war all das. Und er urteilte über Johann Hansen. Wir müssen wachsam bleiben, damit sich solche Geschichten nicht wiederholen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 19.04.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild von Gundula Vogel auf Pixabay
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de