Überdehnung des Ehrenamts?

In Deutschland herrscht eine wachsende Besorgnis über den Mangel an Kandidaten für verschiedene Gremien und Ehrenämter. Dieses Phänomen wirft die Frage auf: Liegt es an einer zunehmenden Demokratieverdrossenheit oder an einer Überdehnung des Ehrenamts?

Im ehrenamtlichen Sektor engagieren sich Millionen Menschen, doch die Zahl der Freiwilligen sinkt. Die Gründe sind vielfältig: anstrengende Arbeit, die Energiekrise und berufliche Belastungen. Sportvereine und soziale Einrichtungen spüren diesen Rückgang deutlich. Digitale Präsenz und Unterstützung von Projekten sind Strategien, um mehr Freiwillige zu gewinnen.

Corona hat zwar die organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland beeinflusst, indem viele Ehrenamtliche ihre Tätigkeit nicht wie gewohnt ausüben konnten, jedoch hat dies nicht zu einem nennenswerten Rückgang des ehrenamtlichen Engagements geführt. Ältere Menschen über 45 Jahre blieben trotz Einschränkungen und Lockdowns durchschnittlich 4,3 Stunden pro Woche ehrenamtlich tätig, ähnlich viel wie vor der Pandemie​.

Auf kommunaler Ebene ist der Kandidatenmangel eher die Ausnahme. Bei Kommunalwahlen gibt es in der Regel genügend Bewerber. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund betont jedoch die Notwendigkeit, das kommunale Ehrenamt zu stärken, da die Anforderungen gestiegen sind.

In Bezug auf Elternbeiräte und Kinder- und Jugendparlamente ist eine mögliche Erklärung für den Mangel an Kandidaten das Gefühl, dass diese Gremien nur begrenzte Entscheidungsbefugnisse haben und daher die Demokratie nur simuliert wird. Jugendparlamente sind zwar in die kommunalen Entscheidungsprozesse eingebunden, jedoch oft nur mit beratender Stimme. Dies könnte dazu führen, dass die Beteiligung als weniger wirkmächtig empfunden wird​​. Ähnlich verhält es sich bei Elternbeiräten, die zwar gewisse Mitbestimmungsrechte haben, aber letztlich in vielen Entscheidungen von der Schulleitung abhängig sind.

Die Gewinnung von ausreichend Freiwilligen für die Freiwilligen Feuerwehren in Deutschland stellt eine Herausforderung dar. In Sachsen beispielsweise gingen seit 2020 wieder 335 Feuerwehrleute verloren. Schon 2013 schlugen die Freiwilligen Feuerwehren in Mitteldeutschland Alarm, da es jedes Jahr bis zu 1.000 Mitglieder weniger gab. Die Pandemie hat zwar zu einem vorübergehenden Anstieg der Mitgliederzahlen in Jugendfeuerwehren geführt, aber es bleibt ungewiss, wie viele der jungen Mitglieder später aktiv bleiben. Eine positive Entwicklung ist der steigende Anteil von Mädchen und jungen Frauen in den Jugendfeuerwehren, was darauf hindeutet, dass der Frauenanteil in den kommenden Jahren steigen könnte​​.

Ein weiteres Problem ist das mangelnde Wissen vieler Jugendlicher über Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren. Die Bereitschaft der 15- bis 27-Jährigen, sich zu engagieren, ist hoch, doch viele wissen nicht, wie und wo dies möglich ist. Oft stehen sie auch vor finanziellen Hürden. Politik und Gesellschaft müssen mehr Informationen über ehrenamtliches Engagement an Schulen und in sozialen Medien bereitstellen und Jugendliche durch Förderprogramme und Vergünstigungen unterstützen. Der Wunsch, das eigene kommunale Umfeld mitzugestalten, ist eine starke Motivation für Jugendliche, sich ehrenamtlich zu engagieren. Sie möchten stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden und wünschen sich eine Anerkennung ihres Engagements​.

Das geänderte Freizeitverhalten, insbesondere bei Jugendlichen, beeinflusst ebenfalls das ehrenamtliche Engagement. Das eigene Zuhause entwickelt sich zum Zentrum der Freizeitgestaltung, wobei Internet, Fernsehen und soziale Medien dominieren. Es gibt weniger Freizeit für und mit anderen, und gemeinsame Aktivitäten mit Freunden oder in der Gemeinschaft werden seltener. Dieser Trend zur Individualisierung und zum Rückzug ins Private dürfte die Bereitschaft, sich in Gemeinschaftsdiensten wie der Freiwilligen Feuerwehr zu engagieren, negativ beeinflussen​​.

Insgesamt gibt es zwar ein hohes Potenzial für ehrenamtliches Engagement unter Jugendlichen, aber mangelndes Wissen, finanzielle Hürden und verändertes Freizeitverhalten die Gewinnung von Freiwilligen für die Feuerwehr erschweren die Beteiligung.

Der Mangel an Kandidaten für verschiedene Gremien und Ehrenämter deutet nicht unbedingt auf eine generelle Demokratieverdrossenheit hin. Vielmehr könnte es sich um eine Kombination aus der Überdehnung des Ehrenamts, den Herausforderungen durch die Pandemie und der Wahrnehmung begrenzter Entscheidungsbefugnisse in bestimmten Gremien handeln. Nicht zu unterschätzen sind auch die finanziellen Belastungen, die mitunter mit dem Ehrenamt einhergehen. Um diese Situation zu verbessern, ist es entscheidend, die Attraktivität und die wirkliche Mitgestaltungsmöglichkeit in solchen Gremien zu erhöhen.

Dieser Artikel wurde am 19.11.2023 erstellt. Das Artikelbild ist ein Beispielbild, es wurde mit DallE generiert.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de