Schuld oder Unschuld: Die trügerische Gewissheit von Beweismitteln

Krimiserien und Fernsehsendungen vermitteln oft den Eindruck, dass manche Beweismittel so eindeutig und unfehlbar sind, dass sie allein ausreichen, um die Schuld eines Täters festzustellen. Doch die Realität zeigt, dass kein Beweismittel absolut unumstößlich ist. Es gilt sogar: Je sicherer ein Verfahren eingeschätzt wird, desto größer wird die Gefahr, dass Fehler übersehen werden.

Ein prägnantes Beispiel hierfür lieferte die Mitte der 1980er Jahre, als der erste nicht auf Papier gedruckte Personalausweis eingeführt wurde. Die weit verbreitete Annahme, dieser sei fälschungssicher, wurde schnell in den Medien aufgenommen (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/neuer-personalausweis-dient-der-inneren-sicherheit-erklaerung-des-bundesinnenministers-809028). Dies führte paradoxerweise dazu, dass kriminelle Konten mit den Ausweisen völlig fremder Personen eröffnen konnten. Bankmitarbeiter verließen sich blind auf die vermeintliche Fälschungssicherheit des Ausweises und schenkten anderen Sicherheitsaspekten weniger Beachtung.

In Bezug auf Beweise in Gerichtsverfahren gab es in den letzten Jahrzehnten schockierende Fehlurteile aufgrund zuvor für sicher gehaltener Verfahren. Ein berüchtigtes Beispiel hierfür sind die Birmingham Six, eine Gruppe Iren, die für einen verheerenden Bombenanschlag in Großbritannien verantwortlich gemacht wurden (https://www.theguardian.com/uk-news/2022/mar/26/why-the-birmingham-six-story-must-not-be-forgotten). Als Beweis galten Rückstände von Sprengstoff an ihren Fingern. Sie verbrachten viele Jahre unschuldig hinter Gittern, bis schließlich festgestellt wurde, dass solche Rückstände auch durch die Farbe von Spielkarten verursacht werden können.

In den USA hat das FBI über viele Jahre lokale Polizeibehörden dahingehend ausgebildet, Haare bestimmten Personen zuzuordnen. Mittels dieses Verfahrens wurden viele Menschen verurteilt, obwohl es wissenschaftlich völlig ohne Grundlage war. Das FBI hat in jährlichen zweiwöchigen Schulungskursen Hunderte von staatlichen Haaranalytikern ausgebildet, die in staatlichen und lokalen Kriminaltechniklabors arbeiteten. Das Justizministerium und das FBI haben formell anerkannt, dass fast jeder Prüfer in einer Elite-FBI-Kriminaltechnikeinheit in fast allen Prozessen, in denen sie Haarvergleichsbeweise gegen Strafverteidiger anboten, über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg fehlerhafte Aussagen gemacht hat. Die meisten Experten in ihrer forensischen Einheit gaben über zwei Jahrzehnte hinweg fehlerhafte Aussagen ab, die in den Verfahren von entscheidender Bedeutung waren. Eine Überprüfung des FBI, die auf etwa 500 der fast 3000 Fälle basierte, in denen FBI-Prüfer Berichte eingereicht oder in Prozessen ausgesagt hatten, die mikroskopische Haaranalysen vor Dezember verwendeten, zeigte die Tragweite des Problems auf (https://www.deutschlandfunk.de/fehlerhafte-haar-analysen-in-den-usa-die-faelle-gehen-in-100.html). Die systematischen Fehler in der Haaranalyse und die fehlerhafte Ausbildung durch das FBI haben viele Menschen ungerechterweise verurteilt und stellen eine schwerwiegende Missachtung der wissenschaftlichen Integrität und der Gerechtigkeit dar.

Auch in Deutschland hat eine Serie von Fehlurteilen Schlagzeilen gemacht. Dabei wurden bei Bränden fälschlicherweise Brandbeschleuniger festgestellt. Ein sehr tragisches Beispiel ist der Fall von Monika de Montgazon (https://www.stern.de/panorama/verbrechen/justizopfer-888-tage-unschuldig-in-haft-3081744.html), die infolge eines Brandes in ihrem Elternhaus, bei dem ihr schwerkranker Vater starb, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Monika de Montgazon verbrachte exakt 888 Tage unschuldig in Haft, bis das Landgericht Berlin sie vom Vorwurf des Mordes, Versicherungsmissbrauchs, der schweren Brandstiftung mit Todesfolge und fahrlässigen Körperverletzung freisprach. Die damals 47-jährige de Montgazon wurde beschuldigt, nachdem Brandsachverständige des Berliner Landeskriminalamts eine von ihnen entwickelte Messmethode anwendeten, um Proben vom Brandschutt zu analysieren. Sie identifizierten den typischen Bestandteil von Spiritus, das 3-Methyl-2-Butanon, in 16 von 17 Proben oberhalb einer bestimmten Grenze, was ihrer Meinung nach auf die Anwesenheit von Spiritus als Brandbeschleuniger hindeutete. Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass diese Methode offensichtlich nicht standardisiert war und auf den eigenen Erfahrungswerten des Sachverständigen basierte, was vom Bundesgerichtshof kritisiert wurde. In einem erneuten Prozess wurde durch weitere Expertise aufgezeigt, dass Spiritus ungeeignet als Brandbeschleuniger ist und keine Hinweise auf das Ausbringen einer brennbaren Flüssigkeit vorlagen. Der Fall Monika de Montgazon entwickelte sich zu einem Justizskandal, und ihr Verteidiger wies darauf hin, dass es mehrere ähnliche Fälle gab, in denen aufgrund des LKA-Gutachtens strafrechtlich gegen unschuldige Bürger vorgegangen wurde. Dieser Fall unterstreicht die kritische Bedeutung der korrekten und standardisierten forensischen Methoden in der Brandursachenermittlung, um tragische Fehlurteile und die damit verbundenen schweren persönlichen und sozialen Konsequenzen zu vermeiden.

Diese Fälle zeigen deutlich, dass eine übermäßige Vertrauensseligkeit in die Unfehlbarkeit bestimmter Beweismittel oder Verfahren tragische Konsequenzen haben kann und eine kritische Überprüfung sowie eine Vielzahl von Beweisen essenziell für die Gerechtigkeit sind.

Bei vielen Straftaten findet sich am Tatort molekulargenetisch auswertbares Spurenmaterial wie Blut, Speichel, Sperma, aber auch Haare oder Hautpartikel, und geringste Mengen dieses biologischen Materials können mit Hilfe von DNA-Analysen einer Person zugeordnet werden. Die DNA-Analyse gilt als eine der sichersten Methoden, um Täterschaften nachzuweisen. Doch es gibt Fälle, in denen diese vermeintliche Gewissheit trügerisch war. Ein bemerkenswerter Fall ist der des „Phantoms“, bei dem die Ermittler auf der Suche nach einem Serienmörder waren, der tatsächlich nie existierte. Die DNA, die an verschiedenen Tatorten gefunden wurde, stammte von einer Mitarbeiterin der Firma, die die Wattestäbchen herstellte, mit denen die Proben entnommen wurden. Dieser Fall führte zu einer intensiven Jagd nach einer nicht existierenden Person, und zahlreiche Verbrechen in Deutschland und Österreich wurden diesem Phantom zugeschrieben. Die Verunreinigung der Wattestäbchen mit der DNA der Fabrikarbeiterin war der Grund für diese fehlerhafte Ermittlung (https://de.wikipedia.org/wiki/Phantom_von_Heilbronn).

Neben der Möglichkeit der Kontamination gibt es auch die Gefahr, dass Täter absichtlich fremde DNA am Tatort hinterlassen, um die Ermittlungen in die Irre zu führen. Dies könnte auf verschiedene Weisen geschehen. Zum Beispiel könnte ein Täter die Handschuhe einer anderen Person tragen und dadurch Fremd-DNA auf den Tatort übertragen. Auch Polizisten könnten den Tatort kontaminieren, etwa wenn sie ihre Handschuhe zwischen der Untersuchung von zwei Tatobjekten nicht wechseln. Täter könnten theoretisch auch DNA-Spuren Unbeteiligter sammeln und am Tatort verteilen, beispielsweise aus Aschenbechern oder dem Müll von Friseursalons.

Der Umgang mit DNA-Beweisen erfordert daher eine große Sorgfalt, sowohl bei der Sammlung von Proben am Tatort als auch bei der Analyse im Labor, um die Möglichkeit von Kontaminationen oder Manipulationen zu minimieren. Die Fälle des Phantoms und anderer falscher DNA-Beweise unterstreichen, dass auch DNA-Beweise im Kontext anderer Beweise zu betrachten sind und nicht allein als unumstößlichen Beweis der Schuld oder Unschuld gelten sollten.

Zeugenberichte gehören in zu den unsichersten Beweismitteln in der Rechtssprechung. Das menschliche Gedächtnis ist weitaus fehleranfälliger und manipulierbarer, als wir oft annehmen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Erinnerungen durch verschiedenste Faktoren beeinflusst und sogar falsch erinnert werden können. Eine der bekanntesten Untersuchungen in diesem Bereich ist das Experiment von Elizabeth Loftus, einer prominenten Kognitionspsychologin, die aufzeigte, wie leicht Erinnerungen durch Suggestivfragen manipuliert werden können (https://www.simplypsychology.org/loftus-palmer.html). In ihrem Experiment zeigte sich, dass die Art, wie eine Frage gestellt wird, die Erinnerung der Zeugen an ein Ereignis beeinflussen kann. Auch die Zeit, die seit dem Ereignis vergangen ist, und Stressfaktoren können die Genauigkeit der Zeugenaussagen erheblich beeinträchtigen. Außerdem tendieren Menschen dazu, Lücken in ihrer Erinnerung mit falschen Informationen zu füllen, um ein kohärentes Bild zu schaffen. Dieses Phänomen wird als „konfabulierte Erinnerung“ bezeichnet. Im Kontext der Strafverfolgung können falsche Zeugenaussagen zu schwerwiegenden Fehlurteilen führen, bei denen Unschuldige verurteilt oder Schuldige freigesprochen werden. Der Fall des Amerikaners Ronald Cotton, der aufgrund einer falschen Identifikation durch das Opfer fälschlicherweise wegen Vergewaltigung verurteilt wurde, ist ein erschütterndes Beispiel für die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen (https://www.innocenceproject.org/cases/ronald-cotton/). Daher fordern Experten eine sorgfältige Prüfung und, wenn möglich, die Korroboration von Zeugenaussagen durch andere, objektivere Beweismittel.

Es ist Praxis, sich nicht ausschließlich auf ein einzelnes Beweismittel zu verlassen, sondern eine Vielzahl von Beweisen und Indizien zu berücksichtigen, um ein genaueres Bild von einem Fall zu erhalten. Die Zusammenführung verschiedener Beweisarten kann helfen, Fehlurteile zu vermeiden. Doch trotz dieser Bestrebungen bleibt die Rechtsprechung nicht unberührt von sozioökonomischen Ungleichheiten. Das Recht auf einen Anwalt ist zwar ein grundlegender Pfeiler des Rechtssystems, doch die Qualität der Verteidigung kann stark variieren, je nach den finanziellen Mitteln des Angeklagten. Es ist kein Geheimnis, dass sich wohlhabendere Individuen oft eine bessere rechtliche Vertretung leisten können, was möglicherweise zu einer ungleichen Behandlung vor Gericht führt. Beispielsweise können sich Menschen mit höherem Einkommen erfahrene Anwälte leisten, die über die Ressourcen verfügen, um umfangreiche Untersuchungen durchzuführen, Experten zu konsultieren und eine effektivere Verteidigung zu präsentieren. Auch können sie sich private Ermittler und Fachgutachter leisten, die dabei helfen können, ihre Unschuld zu beweisen oder zumindest Zweifel an ihrer Schuld zu säen. Auf der anderen Seite kämpfen öffentliche Verteidiger oft mit überlasteten Fallakten und begrenzten Ressourcen, was die Qualität der Verteidigung, die sie bieten können, beeinträchtigen kann. Diese Diskrepanz erzeugt Unrecht und unterstreicht die Notwendigkeit von Reformen, um sicherzustellen, dass jeder, unabhängig vom Geldbeutel, Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Verteidigung hat.

Dieser Artikel wurde am 05.11.2023 erstellt. Das Artikelbild ist ein Beispielbild, es wurde von Dall-E erstellt.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de