Ein Artikel basierend auf den Beobachtungen und Gedanken aus einem Gespräch politisch erfahrener Menschen.
Es ist ein Phänomen, das viele Wähler frustriert und zu dem Gefühl der politischen Heimatlosigkeit führt: Parteien, die einst angetreten sind, um die Interessen der „einfachen Leute“ zu vertreten, entfernen sich im Laufe der Zeit von ihrer Basis und nähern sich den etablierten Machtzirkeln an. Doch wie kommt es zu dieser schleichenden Transformation? Steckt dahinter eine große Verschwörung?
Die Antwort, die sich aus einem intensiven Gespräch von Menschen mit zusammengerechnet fast 200 Jahre politischer Erfahrung ergab, ist ebenso ernüchternd wie nachvollziehbar: Es braucht keine Verschwörung. Es ist vielmehr ein Prozess, der aus menschlicher Psychologie, Gruppendynamik und den subtilen Mechanismen der Macht erwächst.
Die Anatomie einer politischen Entfremdung
Um diesen Prozess zu verstehen, kann man die Entwicklung einer Partei in mehreren Phasen betrachten:
Phase 1: Die rebellischen Anfänge
Am Anfang steht eine Bewegung, die grundlegende Missstände im System anprangert. Ihre Vertreter sind Rebellen, Außenseiter. Sie werden vom politischen und medialen Establishment als Gefahr für den Status quo wahrgenommen. Die mediale Berichterstattung ist entsprechend: Die Partei wird nicht nur kritisiert, sondern oft dämonisiert. Einzelne, unglückliche Aussagen werden zu Skandalen aufgebauscht, die gesamte Bewegung wird als extremistisch, populistisch, unprofessionell, gefährlich oder gar als „fünfte Kolonne“ fremder Mächte gebrandmarkt. Das Ziel ist klar: Sie soll als absolut unwählbar erscheinen.
Phase 2: Die schleichende Zähmung durch Anerkennung
Wenn die Partei trotz des Gegenwinds an Stärke gewinnt, setzen mehrere Effekte ein. Zum einen ziehen Erfolge neue Mitglieder an, die oft weniger radikal und kompromissloser sind als die Gründergeneration. Die Bewegung wird breiter, aber auch beliebiger.
Zum anderen geschieht etwas Entscheidendes: Die bisherigen Außenseiter werden zu Gesprächspartnern. Der Bürgermeister ruft persönlich an, man wird zu Empfängen im Landtag oder gar zum Bundespresseball eingeladen. Für Menschen, die jahrelang ausgegrenzt wurden, ist dies eine Form der Wertschätzung. Man wird ernst genommen. Man tauscht sich aus, lernt die „andere Seite“ persönlich kennen und stellt fest: „Das sind ja auch nur Menschen.“
Genau hier entsteht, was man als „Beißhemmung“ bezeichnen könnte. Man kennt sich, man schätzt sich, man will die neue Harmonie nicht stören. Die Einladung in den inneren Zirkel der Macht ist eine subtile Droge. Jeder persönliche Kontakt, jedes anerkennende Nicken, jedes vertrauliche Gespräch entfernt die Funktionäre Millimeter für Millimeter von ihrer ursprünglichen Basis und ihren Überzeugungen. Dieser Prozess wirkt auf allen Ebenen – vom kleinen Gemeinderat bis in die Flure des Bundestags.
Phase 3: Die Ankunft im Establishment
Irgendwann ist ein kritischer Punkt erreicht. Das Establishment der Partei hat seine innere Haltung so weit an die der Mächtigen angenähert, dass es keine fundamentale Gefahr mehr darstellt. Es wird berechenbar und steuerbar. Man ist Teil des Systems geworden, das man einst bekämpfen wollte.
Für das Image nach außen werden oft noch einige wenige „Rebellen“ gebraucht, die die ursprünglichen Ideale hochhalten. Sie dienen als Aushängeschild und Alibi, um die kritische Basis bei der Stange zu halten. Die eigentlichen Entscheidungen werden aber längst im Konsens mit dem Establishment getroffen.
Die Akteure selbst nehmen diesen Wandel oft nicht als Verrat wahr. Sie reden sich ein, pragmatisch zu sein. „Man muss doch Kompromisse machen können“, „So einfach ist das eben nicht“, sind die typischen Rechtfertigungen. Für die Basis an der Wahlurne ist diese Kluft zwischen dem, was die Partei sagt, und dem, was sie tut, jedoch kaum noch nachvollziehbar.
Fallbeispiel: Der Wandel der Partei Die Linke
Die jüngste Entwicklung der Partei Die Linke dient als Lehrstück für diesen Prozess. Lange Zeit galt der Flügel um Sahra Wagenknecht als das Korrektiv, das die Partei auf einem Kurs der konsequenten Opposition gegen die herrschende Wirtschafts- und Sozialpolitik hielt. Nachdem dieser Flügel systematisch aus der Partei gedrängt wurde, erlebte Die Linke nach einem kurzen Tief scheinbar eine Renaissance und erreichte in Umfragen wieder Werte um die 10 %.
Doch dieser Erfolg ist für ihre Kernwählerschaft, die „kleinen Leute“, trügerisch. An entscheidenden Punkten agiert die Partei nicht mehr als deren Anwalt, sondern als Stütze des Establishments:
- Enteignung in Berlin: Nachdem die Berliner Bevölkerung in einem Volksentscheid erfolgreich für die Enteignung großer Wohnungskonzerne wie „Deutsche Wohnen“ gestimmt hatte, war es die Linke als Teil der damaligen rot-rot-grünen Senatsregierung, die die Umsetzung des Votums auf die lange Bank schob und es faktisch aussitzen ließ. Nach außen „Enteignung“ rufen, an der Regierung aber die Umsetzung verhindern – ein klassisches Beispiel.
- Friedenspolitik im EU-Parlament: Bei einer Resolution über Waffenlieferungen an die Ukraine, die explizit auch deutsche Taurus-Marschflugkörper umfasste, zeigten die drei Abgeordneten der Linken ein Bild völliger Zerrissenheit: Es gab eine Ja-Stimme, eine Enthaltung und eine Nein-Stimme. Eine kohärente Friedenspolitik sieht anders aus.
- Kanzlerwahl von Friedrich Merz: Als Friedrich Merz im ersten Wahlgang zur Kanzlerwahl scheiterte, hätte ihm eine politische Hängepartie bevorgestanden, die seine Kanzlerschaft ernsthaft hätte gefährden können. Die Linke half mit ihrem Stimmverhalten, diese schwierige Phase für den CDU-Politiker schnell zu beenden und ebnete so den Weg für einen Kanzler, der für eine massive Aufrüstung steht.
- Das so genannte „Sondervermögen“ für die Bundeswehr: Die Verankerung des 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungspakets im Grundgesetz benötigte eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat. Diese kam nur zustande, weil auch Bundesländer mit Regierungsbeteiligung der Linken (u.a. Thüringen, Bremen, Berlin) zustimmten.
Diese Beispiele zeigen, dass es nicht um einzelne Fehlentscheidungen geht, sondern um ein Muster. Es ist das Ergebnis jenes schleichenden Prozesses, bei dem die Nähe zur Macht wichtiger wird als die Treue zu den eigenen Prinzipien und Wählern.
Dieser Artikel erschien zuerst am 12.08.2025. das Artikelbild ist ein von der KI (Midjourney) erzeugtes Beispielbild.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de