Lange Jahre wurde uns die Europäische Union als ein historisches Friedensprojekt verkauft. Andere argumentierten, sie sei von vornherein aus rein wirtschaftlichen Interessen entstanden. Zu ihren unbestreitbaren Fundamenten gehörten die Reisefreiheit für ihre Bürger und ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, das sich auf die angebliche Verteidigung universeller demokratischer Werte stützte. Doch was ist nach all den Jahren von diesen hehren Zielen übrig geblieben?
Das gescheiterte Friedensprojekt
Kann die EU ernsthaft noch als Friedensprojekt gelten, während führende Mitgliedstaaten sich durch Waffenlieferungen und politische Unterstützung der mutmaßlichen Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Handlungen schuldig machen? Kann von Friedenssicherung die Rede sein, wenn sich die EU im Ukraine-Konflikt in einem Stellvertreterkrieg befindet, den sie durch das Hinnehmen der Nichteinhaltung des Minsk-Abkommens – bei dem EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich als Garantiemächte auftraten – selbst mit verursacht hat?
Die EU ist in einer beispiellosen Aufrüstungsspirale gefangen. Milliarden werden in die Rüstungsindustrie gepumpt, während die Diplomatie verstummt. Die Behauptung, die EU sei ein Garant für den Frieden in Europa, kann man guten Gewissens verneinen. Sie ist zu einem geopolitischen Akteur mit militärischen Ambitionen geworden, der Konflikte eher schürt als löst.
Der Mythos vom wirtschaftlichen Erfolg
Ist die EU noch ein erfolgreiches Wirtschaftsprojekt, wenn sie sich durch ihre Sanktionspolitik gegen Russland und andere Länder selbst das Wasser abgräbt? Wenn ihre Mitgliedstaaten wirtschaftlich stagnieren oder sich teilweise im Sinkflug befinden? Die erstickende Bürokratie und das Mikromanagement aus Brüssel drohen, jegliche wirtschaftliche Dynamik abzuwürgen.
Besonders deutlich wird der Verlust der wirtschaftlichen Souveränität im Verhältnis zu den USA. Man kann es nur als einen wirtschaftspolitischen Kotau bezeichnen, wenn die EU massive Nachteile im Handel hinnimmt, sich durch langfristige Verträge zum Kauf von um ein Vielfaches überteuertem Flüssiggas (LNG) verpflichtet und im Gegenzug auf Zölle für US-Waren verzichtet. Dies ist eine Politik, die nicht den Interessen der europäischen Bevölkerung dient, sondern fremden Wirtschafts- und Machtinteressen.
Die Aushöhlung der bürgerlichen Freiheiten
Wenigstens ein Projekt, das die Freiheit seiner Bürger garantiert? Auch hier ist das Bild düster. Zunehmend werden Freiheiten abgeschafft, oft auf Betreiben der EU-Institutionen selbst. Einschränkungen der Meinungsfreiheit in sozialen Medien und Messengerdiensten, das Sanktionieren und somit der faktische Entzug fast aller Bürgerrechte von Journalisten, die Enteignung von ausländischem Staatsvermögen – all das schafft gefährliche Präzedenzfälle.
Das Verfolgen und Bestrafen abweichender Meinungen, das Vorgehen gegen Oppositionsparteien und deren Führungspersonal kurz vor Wahlen, sowie die massive Einflussnahme auf die Medienlandschaft durch finanzstarke, sogenannte NGOs untergraben die Grundfesten einer freien Gesellschaft. Die Tendenz ist klar: Der Freiheitsgrad der Bürger ist in vielen Bereichen heute geringer, als er es in den einzelnen Nationalstaaten vor dem EU-Beitritt war.
Demokratie und moralische Überlegenheit: Nur noch eine Fassade?
Bleibt als letzte Legitimation der Bonus der moralischen Überlegenheit und der demokratischen Werte. Doch bei genauerem Hinsehen zerfällt auch diese Fassade. Die Doppelmoral im Umgang mit internationalen Konflikten – etwa die Verurteilung des einen, aber die Unterstützung des anderen völkerrechtswidrigen Krieges – ist eklatant. Die Absage an die Diplomatie im Ukraine-Krieg und die Orchestrierung von Aufständen in Ländern außerhalb der EU zerstören jeden Anschein einer moralisch legitimen Handlungsbasis.
Auch im Inneren ist das Staatengebilde der EU in keiner Weise demokratisch. Die EU-Kommission, die in ihrer Funktion einer Regierung nahekommt, wird nicht gewählt, sondern von den Staatsoberhäuptern eingesetzt. Das Parlament darf keine umfassenden eigenen Gesetzesvorschläge erarbeiten und kann die Kommission weder wählen noch abwählen. Zudem sind die Wählerstimmen je nach Land völlig unterschiedlich gewichtet, was dem Grundsatz „eine Person, eine Stimme“ widerspricht.
Fazit: Ein reines Machtinstrument
Was bleibt also von einer EU, die jeden ihrer Gründungsmythen verraten und jede Legitimation, auf die sie sich berief, selbst mit Füßen getreten hat? Es bleibt ein Machtinstrument. Ein Werkzeug zur Durchsetzung von Interessen – aber nicht der Interessen der Völker Europas, sondern der Interessen derer, die sowieso schon mächtig sind.
Dass diese EU dann auch noch versucht, sich über die nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu erheben – und damit nicht selten Erfolg hat –, stellt ihre Legitimation nicht nur infrage, sondern spricht sie ihr gänzlich ab. Aus Sicht der Bürger ist eine Existenzberechtigung der EU nicht mehr zu vertreten.
Ausblick: Der langsame Zerfall und die Geister der Vergangenheit
Die Frage ist also nicht mehr ob, sondern wie die Europäische Union an ihrem inneren Widerspruch zerbrechen wird. Ein solches Ereignis wäre kein plötzlicher Urknall, sondern vielmehr ein Prozess der Erosion, in dem die Zentrifugalkräfte stetig zunehmen. Auf Basis historischer Parallelen, wie dem Zerfall des Ostblocks oder Jugoslawiens, lassen sich zwei grundlegende Szenarien für die Zukunft Europas skizzieren.
Szenario 1: Die geordnete Abwicklung – ein „Europa à la carte“
Im besten, wenn auch unwahrscheinlichsten Fall, erleben wir eine kontrollierte Rückabwicklung. In diesem Szenario erkennen die Mitgliedsstaaten, dass der „immer engeren Union“ die Legitimation entzogen wurde, und beginnen, die EU schrittweise zurückzubauen.
- Rückkehr zu bilateralen Abkommen: An die Stelle der zentralisierten EU-Verträge würden unzählige neue bilaterale und multilaterale Abkommen treten. Die Staaten würden sich ihre Partner und die Tiefe der Zusammenarbeit wieder selbst aussuchen. Denkbar wäre eine Rückkehr zu einer lockeren Freihandelszone nach dem Vorbild der früheren EWG oder der heutigen EFTA.
- Teilweise Bewahrung von Errungenschaften: Errungenschaften wie die Reisefreiheit (Schengen-Raum) oder Teile des Binnenmarktes könnten durch separate Verträge zwischen willigen Staatengruppen erhalten bleiben. Es entstünde ein flexibles „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, in dem nicht mehr alle alles mitmachen müssen.
Doch selbst dieser „geordnete“ Weg wäre mit enormen Schwierigkeiten verbunden. Die Brexit-Verhandlungen haben einen kleinen Vorgeschmack darauf gegeben, wie komplex und politisch vergiftet allein der Austritt eines einzigen Mitglieds ist. Die Verhandlungen über die Aufteilung der gemeinsamen Vermögenswerte und vor allem der gigantischen Schuldenberge wären ein jahrelanges, zermürbendes Ringen.
Szenario 2: Das Auseinanderbrechen in rivalisierende Blöcke
Wesentlich wahrscheinlicher ist ein chaotischer Zerfall, bei dem sich aus der Konkursmasse der EU mehrere, miteinander konkurrierende Blöcke bilden. Dieser Prozess würde die alten Bruchlinien des Kontinents wieder sichtbar machen.
- Entstehung neuer Blöcke: Man kann sich leicht ein „Kerneuropa“ um Deutschland und Frankreich vorstellen, das versucht, den Euro und Reste der politischen Union zu retten. Dagegen könnte sich ein Block aus osteuropäischen Staaten formieren, der auf nationale Souveränität pocht und sich sicherheitspolitisch stärker an den USA orientiert. Die hochverschuldeten südeuropäischen Staaten könnten gezwungen sein, einen eigenen Weg zu gehen, was unweigerlich zu Währungsturbulenzen führen würde.
- Der Kampf um das Erbe: Der erste und härteste Konflikt würde, wie du richtig vermutest, um die Verteilung der Lasten entbrennen. Wer haftet für die Billionen an Schulden, die im Rahmen von Programmen wie „NextGenerationEU“ oder zukünftigen Rüstungsfonds gemeinsam aufgenommen wurden? Die Nettozahler des Nordens würden auf die Einhaltung der Verträge pochen, während die Volkswirtschaften des Südens unter dieser Last zusammenbrechen und einen Schuldenschnitt fordern würden. Der Streit um das Geld wäre der Zündfunke für tiefes und dauerhaftes Misstrauen.
- Das Wiedererwachen alter Dämonen: Der Zerfall des gemeinsamen Rahmens würde ein Machtvakuum schaffen, in dem längst begraben geglaubte Konflikte wieder aufleben könnten. Nationale Spannungen, die unter dem EU-Deckel gehalten wurden, würden mit voller Wucht zurückkehren. Gebietsansprüche, der Umgang mit Minderheiten oder alte Rechnungen wie die Reparationsforderungen Polens an Deutschland wären plötzlich wieder auf dem Tisch.
Die Geschichte liefert hierfür beunruhigende Parallelen. Der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Jugoslawien hat gezeigt, wie schnell wirtschaftlicher Niedergang und politischer Zerfall in brutale Kriege münden können. Der Zerfall der Sowjetunion führte zu eingefrorenen Konflikten an ihren Rändern, die bis heute für Instabilität sorgen. In einem Europa der rivalisierenden Blöcke, das bis an die Zähne bewaffnet ist, wäre der Weg vom Wirtschaftskrieg zum heißen Krieg erschreckend kurz.
Das tragische Paradoxon wäre somit, dass die EU durch die Art ihres Zerfalls genau die Katastrophe heraufbeschwören könnte, zu deren Verhinderung sie einst gegründet wurde.
Dieser Artikel erschien zuerst am 06.10.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild von Andrew Lockwood auf Pixabay.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de