Der neue Feudalismus: Wie moderne Privilegien unsere Wirtschaft lähmen

Eine historische Parallele zeigt: Echter Fortschritt entsteht nicht durch Bürokratieabbau, sondern durch die Abschaffung exklusiver Rechte, die wenige begünstigen und die Allgemeinheit belasten.

Wir leben in einer Zeit, die sich gerne als modern, aufgeklärt und frei von den Fesseln der Vergangenheit sieht. Doch haben wir das Mittelalter wirklich hinter uns gelassen? Ein genauerer Blick auf unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung offenbart beunruhigende Parallelen zu einer Zeit, in der die Entwicklung durch die Privilegien einiger weniger gelähmt wurde. Wir erleben eine neue Form des Feudalismus, nur dass die Herren heute nicht mehr Adelige, sondern Konzerne, Interessengruppen und Inhaber exklusiver Rechte sind.

Der Blick zurück: Wie die Abschaffung alter Rechte die industrielle Revolution entfesselte

Im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit war die europäische Wirtschaft durch ein undurchdringliches Dickicht an Rechten und Privilegien gelähmt. Diese über Jahrhunderte gewachsenen Vorrechte des Adels und der Zünfte betrafen nahezu jeden Aspekt des Lebens:

  • Bannrechte: Das Recht, eine Mühle zu betreiben (Mühlenbann) oder Bier zu brauen (Bannbraurecht), war oft ein exklusives Privileg des Grundherrn.
  • Jagd- und Fischereirechte: Sie standen nur dem Adel zu und schlossen die breite Bevölkerung von wichtigen Nahrungsquellen aus.
  • Münz- und Marktrecht: Nur der Landesherr oder privilegierte Städte durften Münzen prägen oder Märkte abhalten, was den Handel kontrollierte und beschränkte.
  • Zunftzwang: Handwerker waren gezwungen, Mitglied einer Zunft zu sein, die streng regulierte, wer den Beruf ausüben, wie viel produziert und zu welchem Preis verkauft werden durfte.
  • Gerichtsbarkeit: Der Adel übte die Rechtsprechung über seine Untertanen aus, was oft zu Willkür führte.

Dieses System erstickte Innovation und unternehmerische Initiative. Erst als im Zuge der Aufklärung und großer politischer Umwälzungen, wie den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, diese Rechte massiv beschnitten oder ganz aufgehoben wurden, konnte sich die Wirtschaft entfalten. Kapital und Arbeitskraft wurden mobil, neue Ideen konnten sich durchsetzen und der Wettbewerb wurde entfesselt.

Diese Befreiung war eine der zentralen, wenn nicht die wesentliche Voraussetzung für die industrielle Revolution. Technische Erfindungen wie die Dampfmaschine waren teils schon früher erdacht worden. Doch erst in einer Gesellschaft, die frei von den Fesseln der alten Privilegien war, fanden sie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen vor, um ihren Siegeszug anzutreten.


Die neuen Feudalherren und ihre modernen Privilegien

Heute beobachten wir die Entstehung einer neuen Schicht von Privilegien, die ebenso innovationsfeindlich und gesellschaftlich schädlich sind wie ihre historischen Vorläufer. Diese „Rechte“ kommen in modernem Gewand daher, doch ihr Kern ist derselbe: Sie sichern Wenigen exklusive Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit.

1. Geistiges Eigentum: Die Privatisierung des Wissens

Das wohl mächtigste Instrument des neuen Feudalismus sind Patente und Urheberrechte. Ursprünglich als Anreiz für Erfinder gedacht, hat sich das System in ein Werkzeug zur Monopolbildung verwandelt.

  • Patente auf Medikamente: Ein drastisches Beispiel ist die Patentierung von lebenswichtigen Medikamenten. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren kämpfte Südafrika mit einer verheerenden HIV/AIDS-Epidemie. Das Land wollte günstige Generika importieren und herstellen, wurde aber von internationalen Pharmakonzernen unter Berufung auf ihre Patentrechte verklagt. Das Recht auf geistiges Eigentum wurde hier über das Recht auf Leben und Gesundheit gestellt. Menschen starben, weil ein künstlich geschaffenes Recht die Produktion bezahlbarer Medikamente verhinderte.
  • Patente auf Leben (Biopiraterie): Die Perversion des Patentrechts gipfelt in der Patentierung von Leben selbst. Großkonzerne, insbesondere aus der Agrar- und Pharmaindustrie, entsenden Teams in entlegene, artenreiche Regionen der Welt, um dort gezielt nach einzigartigen Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen zu suchen. Das Ziel ist nicht nur, deren Wirkstoffe zu erforschen, sondern die Gensequenzen selbst oder ganze Organismen patentieren zu lassen – in der Hoffnung auf zukünftige medizinische oder kommerzielle Anwendungen. Dieses Vorgehen, oft als Biopiraterie bezeichnet, privatisiert das genetische Erbe der Menschheit und das traditionelle Wissen indigener Völker, ohne diese am potenziellen Gewinn zu beteiligen. Ein Gen, das sich über Jahrmillionen in der Natur entwickelt hat, wird so zum exklusiven Eigentum eines Konzerns. Es ist eine moderne Form des Landraubs, bei dem nicht Land, sondern der Code des Lebens selbst geraubt wird.
    Besonders absurd wird die Logik des Patentrechts, wenn sie auf die Landwirtschaft trifft und die Opfer zu Tätern macht. Weltweit bekannt wurden Fälle, in denen Agrarkonzerne wie Monsanto (heute Bayer) Landwirte verklagten, weil deren patentiertes, gentechnisch verändertes Saatgut durch Wind oder Insekten auf die Felder der Bauern gelangte. Anstatt den Konzern für die unkontrollierte Ausbreitung seiner patentierten Organismen – eine Form der genetischen Umweltverschmutzung – haftbar zu machen, wurde der Bauer der Patentverletzung beschuldigt. Der bekannteste Fall ist der des kanadischen Landwirts Percy Schmeiser, auf dessen Feldern ohne sein Zutun herbizidresistenter Raps von Monsanto wuchs. Er wurde daraufhin in einem jahrelangen Rechtsstreit überzogen. Dieses Vorgehen kehrt das Verursacherprinzip um: Nicht derjenige, dessen „Eigentum“ auf fremden Grund eindringt, ist in der Pflicht, sondern der Geschädigte wird zum Angeklagten. Der Bauer wird so quasi zum Leibeigenen des Agrarkonzerns, dessen Ackerland jederzeit kontaminiert und er selbst dadurch kriminalisiert werden kann.
  • Ausweitung des Urheberrechts: Das Urheberrecht wird seit Jahrzehnten kontinuierlich verlängert. Werke, die längst in das kreative Allgemeingut übergehen sollten, bleiben für über 100 Jahre im Privatbesitz von Konzernen. Jeder dieser Schritte ist eine Enteignung der Öffentlichkeit, die den Zugang zu Kultur und Wissen erschwert und die kreative Weiterentwicklung hemmt. Es ist eine stille Enteignung, die kaum jemand bemerkt.

2. Verwertungsgesellschaften: Die Pauschalabgabe auf alles

Institutionen wie die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) und die VG Wort (Verwertungsgesellschaft Wort) treiben dieses Prinzip auf die Spitze. Sie erheben pauschale Gebühren auf eine Vielzahl von Geräten und Medien.

  • Die VG Wort beispielsweise erhebt Abgaben auf jeden Drucker, Scanner oder Kopierer, der verkauft wird. Dahinter steht die Unterstellung, dass diese Geräte zur unerlaubten Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke genutzt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ausschließlich eigene, selbst erstellte Inhalte druckt oder kopiert.
  • Ähnlich verfährt die GEMA, deren Gebühren nicht nur bei öffentlichen Musikaufführungen, sondern auch in den Preisen von Speichermedien oder Leerkassetten enthalten waren und heute in Lizenzmodellen für Streamingdienste weiterleben.

Diese Pauschalabgaben funktionieren wie eine Steuer, die unter Generalverdacht erhoben wird und die eigentliche Nutzung völlig ignoriert.

3. Zwangsmitgliedschaften und -abgaben: Moderne Fronarbeit

Auch heute gibt es wieder Zwänge, die an die alten Pflichten gegenüber dem Grundherrn erinnern und die wirtschaftliche Freiheit einschränken.

  • Industrie- und Handelskammern (IHK): Unternehmer werden per Gesetz zur Mitgliedschaft und Beitragszahlung in der IHK gezwungen, unabhängig davon, ob sie deren Leistungen in Anspruch nehmen oder deren politische Positionen teilen.
  • Der Rundfunkbeitrag: Jeder Haushalt muss einen Beitrag für die öffentlich-rechtlichen Sender entrichten, unabhängig von der tatsächlichen Nutzung. Es ist eine zweckgebundene Steuer ohne direkte Gegenleistungswahl.

4. Berufsreglementierungen: Der neue Zunftzwang

Der in Deutschland für viele Handwerksberufe geltende Meisterzwang ist ein direktes Überbleibsel des alten Zunftwesens. Er schafft hohe Markteintrittsbarrieren, schützt etablierte Betriebe vor Konkurrenz und verteuert Dienstleistungen für Verbraucher, ohne zwangsläufig ein höheres Qualitätsniveau zu garantieren, das nicht auch durch andere Zertifizierungen erreicht werden könnte.

Ein besonders anschauliches Relikt dieses Zunftwesens ist das Schornsteinfegerhandwerk. Obwohl die Zahl der traditionellen, mit Holz oder Kohle befeuerten Schornsteine stetig sinkt, hat der Berufsstand durch geschickte Lobbyarbeit überlebt und seine Privilegien sogar ausgebaut. Das klassische Kehrmonopol wurde zwar gelockert, doch für die hoheitliche „Feuerstättenschau“ ist weiterhin der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger zuständig – ein Monopol, das ihm regelmäßige Einnahmen sichert. Gleichzeitig wurden dem Berufsstand neue, oft obligatorische Aufgaben wie Energieberatungen oder die Überprüfung von Lüftungsanlagen zugewiesen. Während einige dieser Tätigkeiten der Sicherheit dienen, zementieren andere vor allem die Unverzichtbarkeit eines Berufsstandes, dessen ursprüngliche Existenzgrundlage schwindet. So wird der Hausbesitzer per Gesetz gezwungen, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, deren Notwendigkeit oft fragwürdig ist, die aber das Einkommen einer privilegierten Gruppe sichern.

5. Territoriale Monopole: Die Vergabe der Daseinsvorsorge 

Ein weiteres starkes Beispiel für moderne Privilegien sind die territorialen Monopole, die im Bereich der Daseinsvorsorge geschaffen werden. Die Müllentsorgung ist hier ein Paradebeispiel. Ursprünglich als hoheitliche Aufgabe den Kommunen zugesprochen, um eine flächendeckende und geordnete Entsorgung zu sichern, hat sich daraus ein Milliardengeschäft entwickelt. Anstatt die Aufgabe selbst wahrzunehmen, vergeben viele Kommunen langfristige Lizenzen an private Entsorgungsunternehmen. Für die Bürger entsteht dadurch eine Zwangslage, die dem mittelalterlichen Mühlenbann gleicht: Sie sind an einen einzigen Anbieter in ihrem Gebiet gebunden und haben keine Möglichkeit, zu einem günstigeren oder besseren Wettbewerber zu wechseln. Das Privileg, in einer bestimmten Region den Müll einsammeln zu dürfen, garantiert dem Unternehmen sichere Gewinne auf Kosten der Verbraucher, die den festgelegten Preisen alternativlos ausgeliefert sind.

6. Die Prüf- und Zertifizierungsindustrie: Das Geschäft mit der verordneten Sicherheit 

Eng verwandt mit den Berufsreglementierungen ist die Entstehung einer ganzen privilegierten Prüf- und Zertifizierungsindustrie, angeführt von Konzernen wie TÜV oder DEKRA. Während viele Prüfungen, etwa die Hauptuntersuchung für Kraftfahrzeuge, unbestreitbar sinnvoll sind, hat sich ein System ausufernder und teils absurder Prüfpflichten etabliert. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die gesetzliche Vorschrift, wonach in öffentlichen Gebäuden, Behörden und sogar in Unterkünften für Geflüchtete potenziell jedes elektrische Gerät – von der Kaffeemaschine im Pausenraum bis zum privaten Handyladegerät – einer gesonderten, kostenpflichtigen Prüfung unterzogen werden muss. Dabei wird ignoriert, dass diese Geräte bereits strenge Sicherheitsprüfungen (wie das CE-Zeichen) durchlaufen mussten, um in Deutschland überhaupt verkauft werden zu dürfen. Hier wird unter dem Deckmantel der Sicherheit eine doppelte und teure Bürokratie geschaffen, die vor allem den Prüfkonzernen ein garantiertes Einkommen sichert. Der angebliche Sicherheitsgewinn steht in keinem Verhältnis zum immensen finanziellen und organisatorischen Aufwand, der letztlich vom Steuerzahler oder Mieter getragen wird.

7. Die Einschränkung der Panoramafreiheit: Die Privatisierung des öffentlichen Raums

Ein weiteres eklatantes Beispiel für die schleichende Enteignung der Allgemeinheit ist die Aushöhlung der sogenannten Panoramafreiheit. Dieses ursprünglich im Urheberrechtsgesetz (§ 59 UrhG) verankerte Recht erlaubte es jedem, Bauwerke und Kunstwerke, die sich bleibend an öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen befinden, ohne die Zustimmung des Urhebers oder Eigentümers zu fotografieren, zu zeichnen und diese Abbildungen auch kommerziell zu verwerten. Der öffentliche Raum und alles, was in ihm sichtbar ist, gehörte gewissermaßen allen. Doch dieses Recht wird zunehmend durch die Interessen mächtiger Institutionen und Konzerne ausgehöhlt.

Prominentestes Beispiel in Deutschland ist die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG), die für das Fotografieren ihrer Liegenschaften, allen voran Schloss Sanssouci in Potsdam, Gebühren verlangt, sobald eine kommerzielle Nutzung der Bilder beabsichtigt ist. Die Stiftung argumentiert dabei nicht mit dem Urheberrecht am Bauwerk selbst – dieses ist längst erloschen –, sondern mit ihrem Hausrecht. Sie dehnt dieses private Recht auf ihr gesamtes, weitläufiges Gelände aus und schafft so ein exklusives Verwertungsrecht am Anblick eines Kulturguts, das aus öffentlichen Mitteln erhalten wird. Wer also Postkarten, Kalender oder auch nur einen Reiseblog mit Fotos von Sanssouci kommerziell betreiben will, muss eine Lizenzgebühr an die Stiftung entrichten. Ein öffentliches Gut wird so privatisiert und der Allgemeinheit der freie Zugang zur Abbildung entzogen.

Noch absurder wird es, wenn selbst der Blick auf Kunstwerke in Museen kommerzialisiert wird, deren Urheberrechtsschutz seit Jahrhunderten abgelaufen ist. Bekannt wurde der Fall der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim. Diese verklagten einen Wikipedia-Mitarbeiter, der Fotografien von historischen Gemälden aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die im Museum ausgestellt waren, auf die Plattform Wikimedia Commons hochgeladen hatte. Obwohl die Gemälde selbst gemeinfrei sind, argumentierte das Museum, dass durch das Anfertigen der Fotografie ein neues Leistungsschutzrecht für das Museum als „Lichtbildhersteller“ entstanden sei. Der Bundesgerichtshof gab dem Museum 2018 in Teilen recht. Damit wurde ein neues Privileg geschaffen: Das Recht, gemeinfreie Kunst zu fotografieren und zu verbreiten, wird dem Museum zugesprochen, das dieses Wissen eigentlich für die Öffentlichkeit bewahren und zugänglich machen sollte.

Die Ausweitung des Urheberrechtsanspruchs geht teilweise so weit, dass es nicht nur die Abbildung des Werkes, sondern sogar dessen Standort im öffentlichen Raum betrifft. Ein Beispiel hierfür lieferte die Stadt Troisdorf. Dort sollten zwei nicht-historische „Stadttore“ des Künstlers Victor Bonato versetzt werden, die Anfang und Ende der Fußgängerzone markierten. Da sich die Fußgängerzone verlagert hatte, war auch die Versetzung der Kunstwerke stadtplanerisch notwendig. Die Witwe des Künstlers klagte jedoch dagegen und bekam Recht. Das Oberlandesgericht Köln urteilte, dass die Versetzung eine „Entstellung“ des Werkes darstelle, da der ursprüngliche Standort Teil des künstlerischen Konzepts sei. Die Stadt wurde verurteilt, die Tore am alten Platz wieder zu errichten. Das Urheberrecht wurde hier so pervertiert, dass es die souveräne Gestaltung des öffentlichen Raums durch die Kommune aushebelt und den Erben des Künstlers ein Vetorecht über städtebauliche Entwicklungen einräumt – ein Privileg, das die Interessen der Allgemeinheit missachtet.

Diese Entwicklung führt zu einer massiven Rechtsunsicherheit. Wer heute eine Person vor einem modernen Gebäude oder einem Auto fotografiert, muss theoretisch bereits fürchten, vom Architekten, dem Hauseigentümer, dem Autohersteller oder sogar dem Designer der Kleidung verklagt zu werden, falls das Bild kommerziell genutzt wird. Die freie Abbildung der Realität wird so einem Spießrutenlauf durch unzählige, überlappende Schutz- und Eigentumsrechte unterworfen. Das Ergebnis ist eine fortschreitende Privatisierung des Sichtbaren, bei der die Allgemeinheit das Recht verliert, ihre eigene Umgebung frei zu dokumentieren und abzubilden.

Das Märchen der alternativlosen Forschungskosten

Ein häufig vorgebrachtes Gegenargument, insbesondere von Seiten der Pharmaindustrie, lautet, dass nur die exklusiven Verwertungsrechte durch Patente die enormen Kosten für die Forschung und Entwicklung (F&E) neuer Medikamente decken können. Dieses Argument ist jedoch aus zwei Gründen irreführend. Erstens sind die Kosten des Systems selbst ein Treiber der Gesamtkosten. Ein erheblicher Teil der Ausgaben von Pharmakonzernen fließt nicht in die Grundlagenforschung, sondern in Marketing, Vertrieb und die juristische Absicherung von Patenten – Kosten, die in einem System ohne diese künstlichen Monopole drastisch reduziert würden.

Zweitens existiert eine leistungsfähige Alternative: die Verlagerung der Grundlagenforschung an öffentlich finanzierte Universitäten. Die entscheidenden wissenschaftlichen Durchbrüche, die zu neuen Wirkstoffen führen, stammen ohnehin oft aus universitärer Forschung, bevor sie von Unternehmen aufgekauft und zur Marktreife entwickelt werden. Würde der Staat die Forschung konsequent selbst finanzieren, trüge zwar der Steuerzahler die initialen Kosten. Im Gegenzug würde jedoch der immense Kostenblock wegfallen, der durch Monopolpreise auf patentgeschützte Medikamente entsteht. Unterm Strich wäre dies eine erhebliche Entlastung für die Bürger und das Gesundheitssystem. Die Allgemeinheit würde für die Entwicklungskosten einmal aufkommen, anstatt über Jahrzehnte überhöhte Preise für ein künstlich verknapptes Gut zu bezahlen. Forschung würde so wieder primär dem Gemeinwohl dienen und nicht der Maximierung von Aktionärsgewinnen.


Die Kosten der Privilegien: Eine unsichtbare, regressive Steuer

Was bedeuten diese Privilegien konkret für den Geldbeutel der Bürger? Die Belastung ist erheblich und trifft, wie so oft, die Ärmsten am härtesten. Viele dieser Kosten sind versteckt, aber einige lassen sich direkt beziffern.

Beispielrechnung: Jährliche Belastung eines Single-Haushalts

KostenpunktGeringes Einkommen (1.250 € Netto/Monat)Mittleres Einkommen (2.200 € Netto/Monat)Hohes Einkommen (5.000 € Netto/Monat)
Rundfunkbeitrag220,32 €220,32 €220,32 €
Urheberrechtsabgaben¹25,00 €25,00 €25,00 €
Indirekte Kosten²225,00 €396,00 €900,00 €
Summe der Jahreskosten470,32 €641,32 €1.145,32 €
Jährliches Nettoeinkommen15.000 €26.400 €60.000 €
Anteil am Nettoeinkommenca. 3,14 %ca. 2,43 %ca. 1,91 %

¹ Geschätzte, auf 3 Jahre umgelegte Pauschalabgaben (VG Wort etc.) für typische Geräte wie Smartphone & Laptop.

² Konservativ geschätzte Mehrkosten von 1,5 % auf das Jahreseinkommen durch verteuerte Produkte und Dienstleistungen infolge von Patenten, Monopolen und Marktabschottung wie dem Meisterzwang.

Das Ergebnis ist eindeutig: Während die absolute Belastung mit dem Einkommen steigt, ist der relative Anteil am Einkommen bei Geringverdienern am höchsten. Über 3 % ihres ohnehin knappen Geldes fließen direkt oder indirekt in die Finanzierung dieser modernen Privilegien. Es ist eine regressive Belastung, die von unten nach oben umverteilt – ganz wie im Feudalsystem.


Die Konsequenz: Bürokratie ist nur das Symptom

Die weitverbreitete Klage über ausufernde Bürokratie greift zu kurz. Die Bürokratie ist in den meisten Fällen nicht die Ursache des Problems, sondern nur die logische Folge der Verwaltung und Durchsetzung dieser exklusiven Rechte. Jeder Patentschutz braucht ein Amt, jede Zwangsmitgliedschaft eine Verwaltung, jede Reglementierung einen Kontrollapparat.

Wir brauchen daher nicht nur einen „Bürokratieabbau“, der nur an den Symptomen kuratiert. Wir brauchen eine grundlegende Debatte über die Legitimität dieser modernen Privilegien.

Nicht reformierbar

Vergleich zum Feudalismus legt eine entscheidende Frage nahe: Wenn diese modernen Privilegien so schädlich sind, warum schaffen wir sie nicht einfach ab, so wie es einst mit den Vorrechten des Adels geschah? Die ernüchternde Antwort lautet: Das System ist in seiner jetzigen Form kaum reformierbar. Es hat über Jahrzehnte hinweg Abwehrmechanismen entwickelt, die es gegen grundlegende Veränderungen immunisieren. Die Gründe dafür sind tief in der Logik von Macht und menschlicher Natur verwurzelt.

Ein zentrales Hindernis ist die schlichte Gewöhnung an Privilegien. Einmal gewährte Vorteile werden von ihren Nutznießern schnell nicht mehr als unverdienter Segen, sondern als selbstverständliches Recht wahrgenommen. Der Gedanke, diese Vorteile wieder abzugeben, wird als existenzieller Angriff empfunden. Dies zeigt sich exemplarisch bei den Heilberufen in Deutschland. Die strengen Regulierungen durch Kammern, wie die Approbationsordnung für Ärzte, sichern dem Berufsstand ein hohes Ansehen und Einkommen. Vorschläge, die Markteintrittsbarrieren zu senken – etwa durch die leichtere Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an spezialisierte Pflegekräfte – stoßen regelmäßig auf erbitterten Widerstand der etablierten Ärzteschaft. Man argumentiert mit Patientenschutz, verteidigt aber faktisch ein über Jahrzehnte zementiertes Privileg.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Privilegierten genau diejenigen sind, die die Regeln der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen. Dieses Phänomen, bekannt als „Regulatory Capture“ (Regulierungsvereinnahmung), beschreibt den Prozess, bei dem Interessengruppen die für sie zuständigen Regulierungsbehörden und Gesetzgebungsprozesse zu ihren Gunsten dominieren. Ein Paradebeispiel ist die Finanzindustrie. Nach der Finanzkrise 2008 gab es weltweit Forderungen nach strengeren Regeln für Banken. Doch die Finanzlobby, eine der finanzstärksten und bestvernetzten Interessengruppen, arbeitete intensiv daran, die Gesetzgebung in Brüssel und Washington zu verwässern. So wurden viele der geplanten Reformen, wie eine wirksame Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking, entweder abgeschwächt oder nie umgesetzt. Die Architekten des Systems sind gleichzeitig seine größten Profiteure und damit die schärfsten Gegner jeder echten Reform.

Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die Privilegierten ihre Vorteile über lange Zeiträume aktiv nutzen, um ihre Macht zu zementieren und ihre Position unangreifbar zu machen. Sie wandeln ökonomische Vorteile in politischen Einfluss um. Das über Jahrzehnte gewachsene System der Agrarsubventionen in der Europäischen Union ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Große Agrarkonzerne und Bauernverbände sind die Hauptempfänger der milliardenschweren Zahlungen. Mit diesen Mitteln finanzieren sie eine massive Lobbyarbeit, die sicherstellt, dass das Subventionssystem trotz aller Kritik an seiner Umwelt- und Wettbewerbsschädlichkeit bestehen bleibt. Kleinere, ökologischere Betriebe haben dem wenig entgegenzusetzen. Die Privilegien schaffen also nicht nur Wohlstand für wenige, sondern auch die politischen Waffen, um diesen Zustand auf ewig zu verteidigen.

Eine bloße „Reform“ solcher festungsartig ausgebauten Systeme ist daher zum Scheitern verurteilt. Jeder Versuch wird an der organisierten Macht der Profiteure zerschellen. So wie der Feudalismus nicht durch Appelle an den Adel, sondern durch einen grundlegenden Bruch mit dem System überwunden wurde, erfordert auch der Kampf gegen den modernen Feudalismus mehr als nur kosmetische Anpassungen. Er erfordert die Infragestellung der Privilegien an ihrer Wurzel.

Für eine neue Welle der Befreiung

Die Geschichte hat uns eine klare Lektion erteilt: Wohlstand und Fortschritt für alle entstehen dort, wo künstliche Barrieren und exklusive Rechte für wenige fallen. Wenn wir heute eine neue, dynamische wirtschaftliche Entwicklung anstoßen wollen, die mit der industriellen Revolution vergleichbar ist, müssen wir den Mut haben, die heiligen Kühe unserer Zeit zu schlachten.

Eine radikale Rücknahme dieser modernen Privilegien – von überzogenen Patent- und Urheberrechten über Zwangsmitgliedschaften bis hin zu anachronistischen Berufszugangsregeln – würde immense kreative und wirtschaftliche Energien freisetzen. Es wäre eine Befreiung, die nicht nur die Wirtschaft belebt, sondern auch die Gesellschaft gerechter macht.

Dieser Artikel erschien erstmals am 08.09.2025. Das Beitragsbild ist ein Beispielbild von Mariann Szőke auf Pixabay.

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de