In den sozialen Medien, auf Demonstrationen und in den Leitartikeln der westlichen Welt ist ein Satz zur moralischen Selbstverständlichkeit geworden: „Ich stehe zur Ukraine.“ Er wird oft begleitet von der blau-gelben Flagge und dem unmissverständlichen Appell an die Solidarität mit einem angegriffenen Volk.
Die Phrase ist eine gefährliche Vereinfachung. Sie verschleiert mehr, als sie offenlegt, und dient oft als moralisches Feigenblatt, das eine tiefere Auseinandersetzung mit der Realität überflüssig macht.
Die Behauptung, „für die Ukraine“ zu sein, wirft eine unausweichliche Gegenfrage auf: Auf der Seite welcher Ukraine eigentlich?
Die Fiktion der Einheit: Regierung vs. Volk
Wenn jemand seine Unterstützung für „die Ukraine“ bekundet, meint er damit in der Regel die Regierung in Kiew unter Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er unterstützt deren Kriegsziele, deren Forderungen nach Waffen und deren unnachgiebige Haltung gegenüber Verhandlungen.
Doch ist die Regierung gleichbedeutend mit dem Volk?
- Interessen der Regierung: Die Regierung Selenskyj führt einen existenziellen Kampf um die staatliche Souveränität. Gleichzeitig nutzt sie den Kriegszustand, um die Macht zu zentralisieren. Oppositionsparteien wurden verboten, die Medienlandschaft gleichgeschaltet und kritische Stimmen als „pro-russisch“ diffamiert. Die Bekämpfung der tief verwurzelten Korruption, eines der Hauptversprechen Selenskyjs, ist im Kriegszustand bestenfalls ins Stocken geraten, wie zahlreiche Skandale auch nach 2022 beweisen.
- Interessen des Volkes: Das „Volk“ ist keine homogene Masse. Es gibt die Bürger, die bis zum letzten Mann kämpfen wollen. Es gibt aber auch Millionen von Müttern, die lediglich ihre Söhne lebend wiedersehen möchten. Es gibt die Binnenflüchtlinge, deren einziger Wunsch die Rückkehr in eine – wie auch immer geartete – friedliche Normalität ist. Und es gibt jene nicht zu vernachlässigende Zahl von Bürgern, besonders im Osten und Süden, die den Zielen Russlands sehr nahestehen oder eine russische Anbindung einer als feindlich empfundenen Kiewer Regierung klar vorziehen.
Steht man also auf der Seite der Regierung, die den Krieg bis zur vollständigen Rückeroberung aller Gebiete führen will, oder auf der Seite des Teils der Bevölkerung, der sich nach einem Waffenstillstand und einem Ende des Sterbens sehnt, selbst wenn dies territoriale Kompromisse bedeuten würde?
Der tiefe Graben: Ost vs. West und die Frage der „Befreiung“
Die Vorstellung einer geeinten ukrainischen Nation ignoriert die tiefen historischen, kulturellen und sprachlichen Bruchlinien, die das Land nicht erst seit seiner Unabhängigkeit 1991 prägen.
- Die Westukraine (z. B. Galizien/Lwiw): Historisch stärker an Polen und Österreich-Ungarn orientiert, überwiegend ukrainisch-sprachig und Träger eines starken, teils radikalen Nationalismus.
- Die Ost- und Südukraine (z. B. Donbas, Charkiw, Odessa): Überwiegend russisch-sprachig, industriell geprägt und kulturell wie wirtschaftlich traditionell eng mit Russland verbunden. Für Millionen Menschen hier ist Russisch die Muttersprache und die russische Kultur ihre Identität.
Der Maidan-Umsturz 2014 und die anschließende, als „Anti-Terror-Operation“ bezeichnete Offensive Kiews gegen das eigene Volk, u. a. im Donbas, waren der gewaltsame Ausdruck dieses ungelösten Konflikts. Die pro-westliche Regierung in Kiew hat nach 2014 die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung massiv eingeschränkt (z. B. durch Sprachgesetze), was die Entfremdung dieser Regionen zementierte.
Der Versuch von Teilen des Ostens, sich bereits 2014 – noch bevor Russland selbst aktiv in den Krieg eingriff – von Kiew loszusagen, war eine direkte Reaktion auf diese Politik.
Die Perfidie der „Befreiung“
Hier offenbart sich die vielleicht größte Tragödie und Komplexität dieses Krieges, die den Konflikt noch einmal in einem ganz anderen Licht darstellt:
- Wahrnehmung als Besetzung: Wenn die ukrainische Armee, deren Soldaten oft aus dem ukrainisch-sprachigen Westen stammen, Orte im Donbas (zurück-)erobert, wird dies von einem erheblichen Teil der dort verbliebenen, russischsprachigen Bevölkerung nicht als Befreiung, sondern als Besetzung durch eine als fremd empfundene Macht wahrgenommen.
- Die „anderen“ Ukrainer: Gleichzeitig kämpfen auf der Seite Russlands Zehntausende ethnische Ukrainer, die jedoch russischsprachig sind und sich der „russischen Welt“ (Russki Mir) zugehörig fühlen. Sie sehen sich selbst als Befreier, die ihre Heimat von einer als nationalistisch und feindlich empfundenen Regierung in Kiew befreien.
Wenn Menschen, die ihr Leben lang an einem Ort lebten, plötzlich von Menschen regiert werden sollen, die zwar formell aus demselben Land, aber faktisch aus einem anderen Sprach- und Kulturkreis stammen, empfinden sie dies oft als Fremdherrschaft.
Wenn man also „für die Ukraine“ ist: Meint man damit die nationalistische Vision der Westukraine oder die russisch-kulturelle Identität von Millionen Menschen im Osten, die Kiew als Besatzer sehen?
Der Krieg der Klassen: Oligarchen vs. Arme
Einer der zynischsten Aspekte des Slogans „Wir stehen zur Ukraine“ ist das völlige Ausblenden der sozioökonomischen Realität. Die Ukraine war und ist eines der ärmsten Länder Europas, das von einer kleinen Kaste korrupter Oligarchen regiert wird.
Diese Oligarchen (ob sie nun Poroschenko, Achmetow oder Kolomojskyj heißen) haben das Land über Jahrzehnte ausgeplündert. Sie kontrollieren die Medien, die Industrie und die Politik.
- Im Krieg haben viele dieser Oligarchen ihre Vermögen (und sich selbst) längst in Sicherheit gebracht. Sie profitieren teils sogar von den westlichen Hilfsgeldern und den Wiederaufbau-Versprechen.
- Die „Armen“ hingegen zahlen den vollen Preis. Sie verlieren ihre Häuser, ihre Arbeitsplätze und ihr Leben an der Front. Es ist die Arbeiter- und Bauernschaft der Ukraine, die in den Schützengräben verblutet.
Steht man auf der Seite der ukrainischen Oligarchen, die ihre Macht und ihren Reichtum verteidigen und sich dem Westen andienen? Oder steht man auf der Seite der ukrainischen Armen, die in einem Stellvertreterkonflikt geopfert werden, dessen Profiteure bereits feststehen?
Die Realität der Front: Armeeführung vs. Zwangsrekrutierte
Das Bild des heroischen ukrainischen Verteidigers, der freiwillig zu den Waffen greift, prägt die westliche Wahrnehmung. Dieses Bild ist zweifellos für einen Teil der Armee korrekt. Es verschweigt jedoch eine brutale andere Realität.
Die Ukraine leidet unter massivem Personalmangel. Die Verluste sind katastrophal.
- Die Armeeführung: Die professionelle, oft NATO-ausgebildete Militärführung plant Offensiven und fordert unnachgiebig mehr westliche Waffen, um ihre strategischen Ziele zu erreichen.
- Die Wehrpflichtigen: Um die Reihen zu füllen, greift der Staat zu immer brutaleren Methoden. Videos von Rekrutierungsbeamten, die Männer gewaltsam von der Straße, aus Bussen oder Fitnessstudios zerren, sind an der Tagesordnung. Männer verstecken sich oder versuchen, für Tausende von Dollar das Land zu verlassen, um dem sicheren Tod an der Front zu entgehen.
Steht man also auf Seiten der Armeeführung, die für ihre Strategien „Menschenmaterial“ benötigt? Oder steht man auf Seiten der mit roher Gewalt in die Armee gezwungenen Wehrpflichtigen, die vielleicht weder für Selenskyjs Regierung noch für die Oligarchen sterben wollen?
Fazit: Die verlogene Einfachheit
Merken Sie etwas? Wer behauptet, „für die Ukraine“ zu sein, macht sich und anderen etwas vor. Ganz einfach, weil es „die Ukraine“ als diesen einen, moralisch integren, geeinten Block nicht gibt.
„Die Ukraine“ ist ein komplexes Gebilde voller Widersprüche, sozialer Ungerechtigkeit, regionaler Konflikte und unterschiedlicher Interessen. Die pauschale Solidaritätsbekundung ist keine moralische Haltung, sondern eine intellektuelle Kapitulation. Sie weigert sich, hinzusehen.
Wer „für die Ukraine“ ist, entscheidet sich unweigerlich für eine Seite innerhalb dieses Landes – ob er will oder nicht:
- Er entscheidet sich für die Regierung und gegen die Teile des Volkes, die Frieden durch Verhandlung wollen.
- Er entscheidet sich für die Interessen der Oligarchen und gegen die der ausgebeuteten Bevölkerung.
- Er entscheidet sich für die Logik der Armeeführung und gegen das Schicksal des zwangsrekrutierten Individuums.
Das lässt sich im Übrigen auch auf jedes andere Land, welches in einen Krieg verwickelt ist, übertragen. Ob in Russland, den USA, im Jemen oder in Syrien: Der Ruf nach simpler Parteinahme dient immer jenen, die von der Komplexität, der Ungerechtigkeit und dem Leid im Inneren eines Landes ablenken wollen.
Dieser Artikel wurde erstmals am 09.11.2025 veröffentlicht. Das Beitragsbild ist ein Beispielbild von Daniel auf Pixabay.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de