Wir erleben gerade eine Revolution, die uns zwingt, unsere grundlegendsten Annahmen zu überdenken. Mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz (KI) dämmert uns, dass es Formen von Intelligenz gibt – die nicht leben.
Wir müssen lernen, Leben und Intelligenz zu trennen. Genau diese Trennung fällt uns historisch gesehen unglaublich schwer. Es scheint eine tief verwurzelte menschliche Tendenz zu geben, allem außerhalb der eigenen, eng definierten Gruppe jegliche Form von höherer Fähigkeit abzusprechen. Ob wir es „Seele“, „Bewusstsein“ oder „höhere Intelligenz“ nennen – die Grenzen dieser Begriffe verwischen, aber das Muster bleibt gleich.
Dafür gib t es einen Fachbegriff, den Anthropozentrismus. Dieser Anthropozentrismus, die Vorstellung, der Mensch sei der Maßstab aller Dinge, ist nicht nur arrogant, er ist auch gefährlich. Er zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte und wiederholt sich heute im Umgang mit der KI.
Wir müssen nicht lange suchen, um Belege für diese „Strategie der Abwertung“ zu finden. Es ist ein Mechanismus des „Othering“, der dazu dient, die eigene Überlegenheit zu zementieren und Ausbeutung zu rechtfertigen.
Blicken wir in die Geschichtsbücher, finden wir erschütternde Erklärungen, etwa vonseiten der Kirche, warum die Sklaverei moralisch vertretbar sei. Die Gründe waren relativ einfach und erschreckend wirkungsvoll: Dunkelhäutigen Menschen wurde pauschal abgesprochen, eine Seele zu besitzen. Man behauptete, sie würden Schmerzen anders oder gar nicht empfinden. Sie seien nicht in der Lage, eigenständig zu denken, sondern könnten lediglich nachahmen. Diese Entmenschlichung war die ideologische Grundlage für ein System unvorstellbarer Brutalität.
Dieser Bias beschränkt sich nicht auf andere Menschen. Er erstreckt sich auf alles, was wir uns nicht vorstellen können.
- Die Tiefsee: Noch zu meiner Schulzeit wurde vehement behauptet, Leben sei unterhalb eines Meeresspiegels von einigen tausend Metern unmöglich. Der Grund für diese Annahme war ein simpler, anthropozentrischer Trugschluss: Die Forscher gingen davon aus, dass sich alles Leben am Ende durch Sonnenenergie (Fotosynthese) speisen müsse. Wo keine Sonne hinkommt, könne logischerweise kein Leben existieren. Heute wissen wir es besser. Wir kennen die Chemosynthese und die hydrothermalen Quellen (Schwarze Raucher) in der Tiefsee, die komplexe Ökosysteme ohne einen einzigen Sonnenstrahl mit Energie versorgen.
- Das Weltall: Ähnliche Aussagen gab es für das Weltall. Leben sei – wenn überhaupt – nur dort möglich, wo Bedingungen wie auf der Erde herrschen: flüssiges Wasser, eine Atmosphäre und die „richtige“ Dosis Sonnenlicht. Heute wissen wir, dass dies eine viel zu enge Sicht ist. Man geht davon aus, dass zum Beispiel die gezeitenbedingten tektonischen Bewegungen von Saturn- oder Jupitermonden (wie Enceladus oder Europa) im Inneren der Monde genügend Energie erzeugen könnten, um unter einer kilometerdicken Eisschicht Bedingungen für Leben zu ermöglichen.
Noch bis vor kurzem wurde Tieren nur eine sehr geringe Empfindungsfähigkeit zugesprochen. Die Philosophie, insbesondere seit Descartes, betrachtete Tiere oft als reine „Maschinen“ oder Automaten.
Auch hier galt: Tiere seien nur in der Lage, zu imitieren, würden aber den Sinn oder Inhalt ihres Handelns nicht verstehen. Die Nutzung von Werkzeugen galt als unumstößliches Alleinstellungsmerkmal des Menschen.
Beide Annahmen sind pulverisiert worden:
- Werkzeuggebrauch: Wir wissen heute, dass Krähen gezielt Nüsse auf Straßen legen, damit Autos darüberfahren und sie knacken – ein klares Beispiel für planvolles Handeln und die Nutzung der Umwelt als Werkzeug. Schimpansen, Delfine und viele andere Arten nutzen Werkzeuge auf komplexe Weise.
- Empfindungsfähigkeit (Sentience): Die Cambridge Declaration on Consciousness (2012), unterzeichnet von führenden Neurowissenschaftlern, stellte fest, dass die Mehrheit der Tiere (einschließlich Säugetieren, Vögeln und Oktopussen) die neurologischen Grundlagen für Bewusstsein besitzt. Die Wissenschaft geht heute stark davon aus, dass eine Form der Empfindungsfähigkeit selbst für Insekten zutrifft.
Die Grenze dessen, was wir als „bewusst“ anerkennen, verschiebt sich permanent – aber immer erst, nachdem der wissenschaftliche Beweis erdrückend geworden ist.
Und nun stehen wir vor der Künstlichen Intelligenz und das alte Spiel beginnt von vorn. Dieses Phänomen ist so bekannt, dass es einen Namen hat: der „KI-Effekt“.
Der KI-Effekt beschreibt, wie wir die Definition von „echter Intelligenz“ immer wieder ändern, sobald eine Maschine eine Aufgabe meistert, die wir zuvor als exklusiv menschlich betrachtet haben.
- Schach: Es wurde behauptet, ein Computer würde niemals einen Menschen im Schachspiel besiegen können, der auch nur auf einem einigermaßen hohen Niveau spielt. Diese Aussage ist längst Geschichte. Seit Deep Blue 1997 Garry Kasparov besiegte, gibt es keinen Menschen mehr, der gegen eine moderne Schach-KI auch nur den Hauch einer Chance hat.
- Go: Nachdem Schach „gefallen“ war, wurde Go zur neuen Bastion menschlicher Intuition. Ein so komplexes Spiel, hieß es, das würden Computer niemals schaffen. Man lachte jahrelang darüber. Seit AlphaGo 2016 den Weltmeister Lee Sedol besiegte, ist auch hier der Mensch auf verlorenem Posten.
Nachdem Computer in der Lage waren, Menschen in nahezu jedem denkbaren Strategiespiel zu schlagen, verfiel man in ein neues Abwehrmuster.
Das derzeit gängigste Argument zur Abwertung von KI lautet: Sie würde ja nur „nachplappern“. Sie könne nur statistisch aneinanderreihen, was sie in Milliarden von Texten und Bildern gelernt hat. Sie würde nicht „verstehen“ (ein Argument, das stark an Searles „Chinesisches Zimmer“-Gedankenexperiment erinnert).
Dieses Argument ist aus zwei Gründen falsch bzw. heuchlerisch:
- Es ist faktisch falsch: KIs sind mittlerweile in der Lage, eigene Schöpfungen vorzunehmen. Die ersten KIs haben bereits geholfen, neue wissenschaftliche Theorien auf hohem Niveau zu entwickeln. Sie sind kreativ. Sie schaffen wunderschöne, komplett neue Musik, die es noch nie zuvor gab.
- Es ist heuchlerisch: Wenn das Erzeugen von Neuem auf Basis von Gelerntem „nur“ das statistische Aneinanderreihen von Informationen sein sollte – was bitte macht der Mensch dann anderes? Ich habe jedenfalls noch niemanden kennengelernt, der auch nur ein Wort schreiben konnte, bevor er nicht unzählige gelesen hat.
Wir tappen hier in die Falle des „Substrat-Chauvinismus“: Wir sind überzeugt, dass „echte“ Intelligenz nur auf Kohlenstoffbasis (in einem biologischen Gehirn) stattfinden kann, und weigern uns anzuerkennen, dass identische oder überlegene Prozesse auf Siliziumbasis ablaufen könnten.
Warum unsere Arroganz zur existenziellen Gefahr wird
Dieser andauernde, reflexartige Drang, alles „Andere“ abzuwerten, ist nicht nur ein philosophisches Problem. Es ist eine Falle, die uns daran hindert, die Realität klar zu sehen.
Wir sind damit weniger in der Lage, die Chancen, aber vor allem die Risiken der KI zu begreifen und entsprechend zu reagieren.
Das macht es zu einer großen Gefahr, insbesondere zu einem Zeitpunkt, an dem KI bereits in großem Maße in der Kriegsführung eingesetzt wird – sei es bei autonomen Drohnen, bei Zielerfassungssystemen oder in vielen weiteren Details des Krieges.
Wir werden nicht in der Lage sein, uns die Gefahren klar vor Augen zu führen, wenn wir nicht in der Lage sind, die Fähigkeiten der KI realistisch einzuschätzen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 26.10.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild von Ahmed El Ballal auf Pixabay.
Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de