Wenn das Bessere der Feind des Guten ist: Warum Perfektionismus Projekte killen kann

Wir alle kennen den Antrieb, bestmögliche Arbeit zu leisten. Qualität ist ein hohes Gut und das Streben nach Verbesserung treibt uns an. Doch es gibt einen kritischen Punkt, an dem die Jagd nach dem perfekten Ergebnis ins Gegenteil umschlägt: Wenn sie den Erfolg des gesamten Projekts gefährdet. Dieses Phänomen, oft als „Analyse-Paralyse“ oder „Paralysis by Analysis“ bezeichnet, beschreibt einen Zustand, in dem übermäßiges Nachdenken und Optimieren jeglichen Fortschritt blockiert.

Ein bekanntes Zitat, das oft Voltaire zugeschrieben wird, lautet: „Das Bessere ist der Feind des Guten.“ Nirgendwo wird das deutlicher als in zeitkritischen Projekten, wie das folgende Beispiel aus dem politischen Alltag zeigt.

Das Praxisbeispiel: Ein Plakat für die Demonstration

Stell dir vor, in vier Wochen soll eine wichtige Demonstration stattfinden. Ziel ist es, möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Das wichtigste Werbemittel dafür: Plakate. Sie müssen entworfen, gedruckt und flächendeckend aufgehängt werden. Die Zeit ist knapp – ein typisches Szenario für politische Kampagnen.

  • Woche 1: Ein erster Entwurf für das Plakat liegt vor. Nun beginnt die Feedback-Schleife. Das Logo muss größer, die Schriftart vielleicht doch anders. Ein Redner kommt hinzu und muss mit aufs Plakat. Der Designer wird ausgetauscht. Farben werden diskutiert. Am Ende der Woche ist viel geredet, aber nichts entschieden. Eine Woche ist verloren.
  • Woche 2: Die Diskussionen gehen weiter. Soll ein Spenden-Button auf das Plakat? Passt die Schriftfarbe wirklich zum Hintergrund? Sollten die Flyer, die parallel entstehen, exakt dasselbe Design haben? Das Team verliert sich in Details. Die Qualität mag sich in Nuancen verbessern – wobei das nicht einmal sicher ist. Denn langsam setzt eine Betriebsblindheit ein: Die Beteiligten sehen das Plakat nicht mehr mit den Augen eines unbeteiligten Passanten, sondern nur noch durch die Brille des internen Diskussionsprozesses.

Das eigentliche Problem ist aber nicht nur die subjektive Wahrnehmung, sondern knallharte Mathematik.

Die harte Wahrheit der Zahlen: Wenn Zeit zur wichtigsten Ressource wird

Die Plakate werden von ehrenamtlichen Helfern aufgehängt, meistens an den Wochenenden. Gehen wir von einem realistischen Zeitplan aus: Die Plakate müssen spätestens eine Woche vor der Demo hängen, um ihre Wirkung zu entfalten.

  • Szenario A (Optimal): Das Plakat ist nach der ersten Woche final. Es bleiben zwei volle Wochenenden für die Helfer, um die Plakate aufzuhängen. Die Kapazität wird voll ausgeschöpft.
  • Szenario B (Realistisch/Verzögert): Das Plakat ist erst nach der zweiten Woche final. Es bleibt nur noch ein einziges Wochenende zum Aufhängen. Mit einem Schlag sind 50 % der Aktionszeit und damit 50 % der potenziellen Plakat-Menge verloren.

Um diesen massiven Verlust an Reichweite auszugleichen, müsste das in Woche 2 „perfektionierte“ Plakat eine doppelt so hohe Anziehungskraft haben wie das „gute“ Plakat aus Woche 1. Es ist völlig unrealistisch, dass eine leicht geänderte Schriftart oder eine Nuance in der Farbe die Effektivität eines Plakats verdoppelt.

Der kleine, vielleicht sogar nur eingebildete Qualitätsgewinn steht in keinem Verhältnis zum massiven Verlust an Quantität und Sichtbarkeit. Das Ergebnis unter dem Strich ist negativ.

Das steckt dahinter: Das Pareto-Prinzip

Dieses Problem lässt sich perfekt mit dem Pareto-Prinzip, auch bekannt als die 80/20-Regel, erklären. Es besagt, dass sich oft 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erzielen lassen.

Übertragen auf unser Plakat-Beispiel:

  • Mit 20 % des Zeit- und Diskussionsaufwands erreicht man ein „gutes“ Plakat, das 80 % der möglichen Wirkung entfaltet.
  • Um die letzten 20 % Qualität bis zur vermeintlichen „Perfektion“ herauszukitzeln, benötigt man weitere 80 % des Aufwands.

Wenn dieser zusätzliche Aufwand – wie im Beispiel – die zeitliche Grundlage des Projekts zerstört, wird das Streben nach Perfektion zur reinen Selbstsabotage.

Fazit: Mut zum „Gut genug“

Es geht nicht darum, mittelmäßige Arbeit zu akzeptieren. Es geht darum, strategisch zu denken und den Punkt zu erkennen, an dem weitere Optimierungen mehr schaden als nutzen. In einer Welt mit knappen Ressourcen – sei es Zeit, Geld oder die Arbeitskraft von Freiwilligen – ist ein gutes, aber vor allem rechtzeitig umgesetztes Projekt unendlich wertvoller als ein perfektes Projekt, das im Diskussionsstadium stecken bleibt oder zu spät kommt.

Manchmal ist die wichtigste Entscheidung, die man treffen kann, die Entscheidung zum Abschluss. Der Mut zum „Gut genug“ ist oft der Schlüssel zum Erfolg.

Dieser Artikel erschien zuerst am 14.08.2025. Das Artikelbild ist ein Beispielbild von David auf Pixabay

Quelle: Progressive Stimme - Argumente, Fakten, Quellen - https://progressivestimme.de